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Leserkommentar: Bewusstsein und Evolution

Von Norbert Leser

Leserforum

Wenn Franz M. Wuketits ("extra", 19./20. Juli) wieder einmal versucht, eine Botschaft von der rein biologischen Natur des Menschen und der Auflösung der Gottesidee in der Evolution zu verkünden und die Religion als bloße, wenn auch partiell nützliche, Illusion zu entlarven, so wird diese Herleitung, Abwertung und Reduzierung durch wiederholte Betätigung und Anwendung nicht richtiger. Der Versuch scheitert schon daran, dass die Evolution sich nur auf in Zeit und Raum stattfindende Vorgänge bezieht, das Sein insgesamt aber außer und über Raum und Zeit steht. Die Ewigkeit beziehungsweise der Ewige bleiben in dieser reduktionistischen Sicht gänzlich außer Betracht. Auf diese Weise wird ein relativer Vorgang absolut gesetzt. Dieser Relativismus und Reduktionismus wird dann als bare Selbstverständlichkeit ausgegeben.

Demgegenüber betrachtet die traditionelle Philosophie nicht bloß christlicher Prägung, sondern auch Kant’scher Provenienz den Menschen als "Bürger zweier Welten", einer nach Immanuel Kant "phänomenalen" irdischen und einer "intelligiblen", in die der Mensch kraft seiner Vernunft und seines Bewusstseins hineinragt. Bei diesen höheren Wirklichkeiten handelt es sich nicht um bloße Erfindungen der menschlichen Fantasie, sondern um grundlegende Realitäten, die weder aus der Materie ableitbar, noch auf sie reduzierbar sind.

Der österreichische Philosoph Max Adler hielt dem Materialisten Lenin, der die Existenz der Erde vor dem Auftauchen des menschlichen Bewusstseins fälschlich für einen Beweis zugunsten des Materialismus hielt, den Satz entgegen: Die Erde war zwar vor dem Menschen hier, aber nicht vor dem Bewusstsein. Das Bewusstsein und die Vernunft sind nicht Ergebnisse der Evolution, sondern deren Rahmenbedingung und Voraussetzung. Es ist nicht so, dass jene Philosophen, die Bewusstsein und Vernunft für die ursprünglichen und überlegenen Seinsqualitäten halten, sich überflüssigerweise etwas hinzudenken, sondern umgekehrt: Die Materialisten versuchen, sich etwas wegzudenken.

Der englische Philosoph George Berkeley hat im 17. Jahrhundert die Formel "esse = percipi" geprägt, wonach es kein unbeobachtetes Sein, kein Sein außerhalb jedes Bewusstseins, geben kann. Das menschliche Bewusstsein verweist, ohne dass hierzu ein förmlicher Beweis nötig wäre, auf ein übergeordnetes, innerhalb dessen auch die Evolution als ein innerweltlicher Vorgang stattfindet.

Norbert Leser war Professor für Sozialphilosophie an der Universität Wien und Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für neuere österreichische Geistesgeschichte in Wien