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Das Trauma war gestern, die Kunst ist heute

Von David Th Ausserhuber (Leserreporter)

Leserforum

new mediative art:
Nachhaltige Geschichtsaufarbeitung durch Kunst in Albanien und Afghanistan


Geschichte hat grundsätzlich ein Problem: in der Gegenwart betrachtet fehlt ihr einfach das Salz. Stinklangweilig, fade, einschläfernd, wir kennen das aus dem Unterricht. Nur diejenigen, die von ihr bis auf diesen Tag berührt werden, interessieren sich dafür. Es ist ja ihr Leben. Vielleicht war es ja fast ihr Tod.

Da sind sie also, die zwei Seiten. Hier diejenigen, geprägt von der vergangen geglaubten Geschichte, dort die anderen, nichts anderes im Kopf als J.E.T.Z.T. Geschichte zu schreiben. Früher gegen das Jetzt, Damals gegen das Heute, der intellektuelle Ringkampf schafft sich vor aller Augen immer mehr Spiel-, oder vielmehr Kampf-Raum. Egal wie es ausgeht, egal wer die meisten Federn lassen muss, die Zukunft wird wohl spannend werden.

Traumatische Geschichte aufgearbeitet durch Kunst: Beispiel Albanien

Auf der internationalen Bühne, mitten in diesem Ringen der Intellekte, hat Albanien einen Meilenstein gelegt, der hierzulande Beachtung verdient. Durch eine kluge Art von Kunst, der ich mit dem neuen englischen Begriff new mediative art eine treffende Bezeichnung zuweisen möchte, soll dem Interessierten Meinungsbildung über Vergangenes und vergangen Geglaubtes ermöglicht werden. Wie? Durch Kunst, geradezu markerschütternde Kunst. Wozu? Um Geschichte mit der Gegenwart zu versöhnen, oder um es zumindest zu versuchen. Wann? Jetzt oder nie. Bereit?

Mitten in dieser europäischen Hauptstadt, neben Rathaus, unweit Moschee, Baha'i-Monument, nationaler Kunstgallerie und behaglicher Börek-Bude eröffnete 2016 eine Manifestation dieser neuen mediativen Kunst. Tirana, die adrette Hauptstadt Albaniens bietet mit bunk'ART ein Erlebnis mit direktem Realitätsbezug. Hier wird der Bezug zur Geschichte in der Gegenwart real. Nein, das beschreibt es nicht treffend. Also: Der Bezug zur Geschichte wird in künstlich geschaffener Gegenwart real. Auch noch nicht ganz. Noch einmal: Der Bezug zur Geschichte wird in künstlerischer Gegenwart real, Geschichte wird durch Kunst zu erlebbarer Gegenwart.

Was bewirkt dieser fesselnde Prozess für Besucher? Sie werden zu Augenzeugen der Gegenwart gewordenen Vergangenheit, zumindest glauben sie das zu werden. In Wirklichkeit erleben Sie künstlerische Freiheit in ihrer Höchstform, und das ausgerechnet im kalt-feuchten Atombunker von Enver Hoxha mitten unter dem Zentrum Tiranas!

Man muss diese neue mediative Kunst lieben für all das, was sie zu vollbringen vermag. Kann dieses junge frische Kunstkonzept tatsächlich dazu beitragen, sich eine Meinung zu bilden, Geschichte aufzuarbeiten, Traumata hinter sich zu bringen und kreativ kluge, gar versöhnende, Weichen für die Zukunft zu legen? Selbst wenn sie nur die Hälfte von gerade Erdachtem hält, der von ihr ausgelöste Denkanstoß bleibt außergewöhnlich und bemerkenswert.

Traumatische Geschichte aufarbeiten mit oder ohne Kunst? Antworten aus Afrika, Europa und dem Nahen Osten

Nun gibt es denn so gut wie überall am Globus aufzuarbeitende Geschichte. Wie gehen im Vergleich andere Länder mit ihren eigenen Orten des Traumas um? Es folgt eine kurze Auswahl.

Äthiopien zum Beispiel errichtet das würdevolle "Red Terror Martyrs' Memorial Museum" zum Gedenken an die Opfer des Derg-Regimes unübersehbar im Herzen seiner Hauptstadt Addis Abeba - und damit direkt im Blickfeld der gesamten Afrikanischen Union.

Irak, Autonome Region Kurdistan: Die Universitätsstadt Sulaimaniyya gewährt sehr tiefen Einblick in die tragische Vergangenheit der irakischen Kurden im ehemaligen Hochsicherheitsgefängnis Amna Suraka, jetzt als Gedenkmuseum öffentlich zugänglich.

Ukraine: Informationen über den supertraumatischen Tag des Atomreaktorunfalls in Tschernobyl sind in ein Museum in Kiew eingebettet. Wer sich nicht rechtzeitig ob der streng eingehaltenen Öffnungszeiten für den Einlass qualifiziert, dem bleibt die fragwürdige Möglichkeit, in privaten Online-Reisebüros einen Tagesausflug ins verseuchte Sperrgebiet zu buchen.

Österreich: Der Ort des Schreckens hat hierzulande die Adresse Erinnerungsstrasse 1, 4310 Mauthausen. Prägende künstlerische Momente wie an denen des 8. August 1998 vermochten zu überzeugen, dass Trauer und Trauma auch hier Kunst und Lebenswillen Platz schaffen können. Joe Zawinul führte damals am selben Tag der Enthüllung einer Opfergedenktafel gemeinsam mit Frank Hoffmann vor tausenden Anwesenden eine unvergessliche Klangcollage auf - im Steinbruch des ehemaligen Konzentrationslagers.

Traumatische Gegenwart trifft auf Kunst: new mediative art im aktuellen Kriegskontext Afghanistan

Auch jüngere Geschichte produzierte für viele zweifellos neue Traumata. Stichwort Einsturz der Zwillingstürme: Ist unsere Welt seit 09/11 eine andere? Wurde sie in Gut und Böse geteilt? Wo genau sollte sich dann ihr Grenzschnitt befinden? Auf welcher Seite stehe ich? Auf welcher Seite die anderen? Wer sind die anderen? Bin ich noch ich auf der anderen Seite? Und was ist jetzt plötzlich die andere Seite?

Eine besondere Aktionskunst, ebenfalls mit dem Stempel new mediative art, hinterlegt bei diesen inneren Überlegungen persönliche und angreifbare Fragezeichen. Besucher werden zu Augenzeugen eines buchstäblichen Grenzgangs entlang einem der wahrscheinlich symbolträchtigsten aller noch existierenden Grenzzüge. Dort, wo die Welt, so wie wir sie zu kennen glauben, aufhört und eine andere beginnt. borderline | the walk on the edge entführt den Betrachter in einen unwirklichen Zustand, der auf der Leinwand durch wirkliche Originalaufnahmen eines realen Grenzgangs von 2015 entlang des legendären Oxus zum Jahrestag von 09/11 provoziert wird.

Wie weit wollen wir noch gehen? Erst einmal nach Zentralafghanistan, zu den Feierlichkeiten anlässlich der ersten südasiatischen SAARC-Kulturhauptstadt Bamiyan im Sommer 2016. Über 300 Anwesende wurden dort und nirgendwo anders zu Augenzeugen dieser wortlosen wie vielsagenden Aktionskunst. Hier müssen wir vorerst halten, noch weiter zu gehen wäre Kriegsgebiet, denn nur diese Gegend ist die etwas weniger terrorisierte im Vergleich zum Rest des Landes, des Landes im Kriegszustand. Deshalb fühlten sich viele trotz projizierter Grenzen und vom Zaun gebrochenen Borderlines nicht am Rande, sondern geradezu im Herzen des Geschehens.

Geschichte. Trauma. Kunst. Gegenwart. Versöhnung? Das Echo der Besucher

Im Interview berichtet Eva Haxhi, Geschäftsführerin von bunk'ART, vom sich in den hohen Besucherzahlen widerspiegelnden enormen Echo. Als Albanien schon 2014 den Bunker für die Öffentlichkeit für nur zwei Monate entriegelte, strömten 70 000 Besucher in diese triggernde Unterwelt. Dieser und ein zusätzlicher Riesenbunker wurden 2016 geöffnet und durch eigenwillige Kunst dauerhaft zu Leben erweckt, was seitdem für einige weitere Zehntausende nachhaltige Denkanstöße lieferte.

"Eine Möglichkeit, Geschichte und die Vergangenheit eines Landes zu erzählen, ist, sie direkt der Gegenwart gegenüberzustellen", erklärt der Museumskurator Carlo Bollini, und spricht dabei von "the ancient to the modern". "Der jetzige Stand der Gesellschaft kann nur über das Verständnis seiner früheren Geschichte verstanden werden. Meiner Meinung nach bewirken aktuelle Kunst und die von ihr ausgelösten Emotionen einen Kontrast, der hilft, Vergangenes zu entschlüsseln."

Die afghanische Kunsthauptstadt Bamiyan, im völlig toten Winkel der Weltöffentlichkeit gelegen, kann hingegen nicht mehr als von einer handverlesenen Auswahl internationaler Besucher berichten. Die Anreise dorthin am Landweg führt durch Kriegsgebiet, und Flugzeuge gibt es regelmäßig selten. Trotzdem ist an Aussagen von lokalen Besuchern zu erkennen, dass new mediative art auch dort ihren Platz gefunden hat. Und bewirkt, dass Vergangenes mitsamt Gegenwart, Wahnsinn vermengt mit Träumen, mit all der eigentlichen hervorgetriggerten Borderline-Realität versöhnt werden kann. War das Trauma gestern, ist die Kunst heute? Wenn ja, was kommt morgen?

Die borderline Besucherin Marzia Hamdard, Geschäftsstellenleiterin der afghanischen Nili University sagt dazu: "Wir wissen dass Afghanistan ein rückständiges Land ist, und die Gründe hierfür liegen bei Problemen aufgrund mangelnder Sicherheit, Arbeitslosigkeit, Instabilität, allgemeiner Zwietracht und hoher Analphabetenrate. Durch die [borderline-]Ausstellung wird die junge Generation auf Neues aufmerksam und einige der Probleme mögen sich dadurch verringern."

"Neues", was könnte das alles sein? Die Befreiung aus inneren Lebenslügen? Oder vielleicht schlicht gar nichts anderes als das eigene Selbst-Bewusstsein, das Bewusstsein der eigenen gewünschten Identität, jetzt neu mediativ reflektiert? An dieser Stelle ist die Niederschrift eines jungen afghanischen Studenten und borderline-Teilnehmers erwähnenswert. Er fühlte sich nach dem walk on the edge bewogen, seine Empfindungslage als Art Flaschenpost für die auf der anderen Seite festzuhalten - übrigens, sind das jetzt wir? Hier das Zitat im Originaltext: "I as an Afghan invite you to come in Afghanistan and watch our cultures, traditions and nature recreations. I know you don't think positive about Afghanistan always think about terrorism [...]. - Aman Naveed."

Triggergefahr, Borderline & Co: Weitergehen auf eigenes Risiko

Natürlich, diese Art Kunst, new mediative art wie ich sie nenne, birgt, wie schlußendlich durchgeschimmert, die Triggergefahr. Sorry, I hätte sie doch schon früher explizit darauf hinweisen müssen. Weitergehen, entweder in den Atombunker in Albanien oder entlang der Grenze der Totenstille am Oxus in Afghanistan, ist jetzt natürlich rein Ihre Entscheidung.

Das noch als Entscheidungshilfe: Es ist eigentlich ganz einfach, es ist nicht anders als in der konventionellen Kunstausstellung: Man lässt sich darauf ein oder nicht. Das Risiko liegt bei einem selbst. Auch ganz so wie in der wirklichen Mediation: Man geht hin oder eben nicht. Die Teilnahme ist freiwillig.

Wer natürlich dafür bereit ist, erlebt. Sein eigenes Leben und das der anderen, sowohl im Licht der Geschichte als auch im dem der Gegenwart. Jetzt, wo plötzlich alle beide so eng beieinander stehen, ist D.I.E. Gelegenheit zu ihrer Versöhnung. Möchten wir das so stillschweigend zulassen, gerade hier in der Kunst? Lassen wir die beiden ruhig mal machen. Denn vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee. Wenn ich nicht irre, teilen sich beide, Geschichte und Gegenwart, mit uns allen immerhin die Zukunft.

new mediative art
oder Neue mediative Kunst beschreibt in diesem Artikel eine Form der (Aktions-)Kunst, welche zur Erlangung einer neuen Sichtweise seiner selbst und des Gegenübers navigiert. Wie im Prozess einer realen Mediation werden reale, angreifbare Inhalte aus Vergangenheit und Gegenwart eingesetzt, um im Idealfall eine Versöhnung zu erzielen. new mediative art lässt Besucher zu Augenzeugen werden und lässt sie folgend selbst entscheiden, wie weit sie diesen polarisierenden Raum der Kunst begehen wollen.

Information:
David Th Ausserhuber ist Akademischer Mediator und Traumaberater (SFU) Deutsch/Englisch/Persisch sowie trilingualer Pädagoge mit Beratungsfunktion. Er betreibt Mediationsforschung und greift relevante Ergebnisse und Erfahrungswerte aus 70 Ländern in Gastbeiträgen wie Kunstprojekten auf.