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The World According to Ortner

Von Richard Schuberth

Leserforum

Replik auf den Gastkommentar von Christian Ortner in der "Wiener Zeitung" vom 8. Juli:

In der digitalen Anarchie des Postfaktizismus ist Christian Ortner einer der letzten aufrechten Verteidiger des Kontrafaktischen. Seine Texte sind verlässliche Kompasse der Wahrheit: Die Nadel zeigt immer zum Gegenteil von dem, was er für richtig hält. Darum bleibe er uns noch lange erhalten. Dass er, was er schreibt, auch wirklich glaubt, tut nichts zur Sache, das ließe sich schnell mit ein paar Flugtickets korrigieren. Man lasse ihn seine beginnenden Alterskrankheiten in Athener Spitälern behandeln, auf dem Markt von Dakar europäische Hühnerkeulen verkaufen oder als Ferienabenteuer mit der ganzen Familie in einer kongolesischen Koltanmine unter chinesischer Leitung malochen. Ob er die dort erlebten Unannehmlichkeiten immer noch auf lokale Kleptokratien zurückführen würde, hängt vom Grad seines Realitätsverlustes ab.

In seiner Hetze gegen die Gegner des G20-Gipfels behauptet Ortner, Hunger und Elend in der Welt seien nicht Ursache von zu viel, sondern zu wenig Globalisierung. Und untermauert diese These mit Argumenten, die allesamt auf erfrischend konsequente Weise falsch sind. Dass die Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank innerhalb der vergangenen vier Jahrzehnte lokale Ökonomien mit dem unternehmerischen Ehrgeiz von Heuschreckenplagen versehrt haben, muss Herr Ortner gar nicht beim "Hassprediger aus Genf" Jean Ziegler nachlesen, und nicht einmal bei den kryptokommunistischen Wissenschaftern William Easterly oder Joseph Stiglitz, vormals Chefökonom der Weltbank, sondern wird mitunter in den Berichten besagter Institutionen selbst eingestanden. Und mit ihren Economic Partnership Agreements fährt die EU fort, in Konkurrenz mit chinesischen Investoren die Märkte des globalen Südens durch Billigprodukte zu ramponieren, Staaten durch Abschaffung der Zölle um ihre Budgets zu bringen und zu verlängerten Werkbänken umzufunktionieren, in die arbeitsintensive Arbeitsschritte ausgelagert werden können.

Globalisierung könnte ein positiver Begriff sein

Es liegt in den Sternen, ob es Dummheit oder Zynismus ist, die Ortner den relativen Anstieg der Durchschnittseinkommen als Triumph der Globalisierung feiern lässt, handelt es sich doch um Durchschnittswerte, welche die sich potenzierenden Einkommen der "happy few" auf Gesamtbevölkerungen umlegen, über deren soziale Deklassierung wiederum der Gini-Koeffizient Aufschluss gibt, und dieser sieht nicht nur im globalen Süden verheerend aus.

Der Hungertod von Kindern, so Ortner, sei "dramatisch reduziert worden". Das mag, auch wenn wir es nicht so dramatisch finden, statistisch stimmen, doch sagt die dramatische Reduktion des Todes nichts über die dramatischen Lebensbedingungen der Überlebenden aus, die als Hungerlohnarbeiter die Profite der Investoren, als vertriebene Bauern deren Landbesitz und als korrupte Staatsbeamte deren Steuerschulden dramatisch schwellen lassen.

Doch man soll den Tag nicht vor dem Kassasturz loben, im Jemen droht eine Hungerkatastrophe biblischen Ausmaßes. Dass die nicht allein das Werk lokaler Kleptokraten sein wird, sondern auch dem außenpolitischen Hunger der globalen Kleptokraten geschuldet, kann sich Ortner von jedem bürgerlichen Nahost-Experten erzählen lassen.

In einem muss man ihm freilich recht geben: Globalisierung könnte ein positiver Begriff sein. Allerdings nur, wenn sie den Globus so einrichten würde, dass jede Senegalesin und jeder Kongolese die freie Wahl hätten, sich - nach penibler Presserecherche zum Beispiel und der Einsicht von der dramatischen Reduktion der Zurechnungsfähigkeit österreichischer Publizisten - dann doch nicht für Wien, sondern Sylt oder Aix-en-Provence als Urlaubsziele zu entscheiden.