Wie das Individuum und das Kollektiv in Beziehung stehen, respektive die Bedeutung einer Vernetzung von Gruppe und Einzelperson war Dienstagabend Inhalt einer philosophischen Podiumsdiskussion in der Wienbibliothek im Rathaus über den Wiener Kreis und Ludwig Wittgenstein. Diese Beziehung kann Spannungsfeld und Nährboden zeitgleich sein, aber auch ein Sehnsuchtsort, stellte die stellvertretende Chefredakteurin der "Wiener Zeitung", Judith Belfkih, als Moderatorin in den Raum.
"Philosophie ist ein Stück Therapie, die Klärung von Gedanken, die einem Individuum gut tut – aber auch der Gesellschaft", betonte Christian Kanzian, Direktor der Österreichischen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft in seiner Key Note. Konfliktreich werde es dann, wenn man sich auf das Trennende fokussiere. Eines der trennenden Elemente war zur Zeit des Wiener Kreises die Einschätzung der Idealsprache.

Die Überspezialisierung

Idealsprache und Alltagssprache standen dann auch im Mittelpunkt der Diskussion. Zu damaliger Zeit stand im Vordergrund, eine Sprache zu finden, mit der man über Disziplinen hinweg reden kann, um das Trennende und das Gemeinsame sichtbar zu machen, erklärte der Philosoph und Historiker Friedrich Stadler vom Institut für Zeitgeschichte. Es sollte eine Möglichkeit geben, trotz individueller Unterschiede in der Philosophie und in der Erkenntnistheorie ein Forum für ein Gespräch über die Wissenschaften zu finden. "Das ist aus heutiger Sicht angesichts der Überspezialisierung der Wissensgeneration Social Media und der neuen Technologie, wie auch ChatGPT, ein gewaltiger Anspruch", so Stadler.
Der Trend zur Alltagssprache sei eine Antwort auf diese Überspezialisierung. Sie soll eine Chance eröffnen, "in ganz unterschiedlichen Bereichen einen Austausch herzustellen. Der wäre sonst nicht möglich", stellte die Philosophin Elisabeth Nemeth fest.
Die Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv ist auch in der heutigen Wissenschaft von Relevanz – und auch dafür, wie neues Wissen generiert wird. Einerseits stehe immer mehr das Kollektiv im Vordergrund. Preise werden an Forschungsgruppen vergeben, Forschungsgruppen publizieren im Kollektiv. "Wenn das so ist, ist das ein allgemeiner Trend, der durch die technische Entwicklung verstärkt wird und dem wir uns stellen müssen", so Stadler. Im Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass etwa einzelne Professuren daran gemessen werden, ob man als Individuum Forschungsgelder einbringt, skizzierte Nemeth. Das sei "in jeder Hinsicht eine falsche Art von Individualisierung".

Social Media und Bürgerräte

Die gesellschaftliche Veränderung scheint auch verwaschen. Sind wir eine Gesellschaft von Individualisten oder alle so individuell, dass wir schon wieder gleich sind?, fragte Judith Belfkih. "Wir reden von Ich-AGs und Vereinzelung. Andererseits gibt es diese supranationalen Phänomene wie das Internet und Social Media, die ja offenbar der Form nach große Communitys darstellen", so Stadler. Zwischen diesen Polen spiele sich das gesellschaftliche Leben ab, das im Grunde genommen nicht mehr von nationalen Regierungen steuerbar sei.
Nemeth sieht Strömungen wie den Versuch, über Bürgerräte Menschen, die sich nicht kennen, zu einer gemeinsamen Arbeit zu bringen. Als Beispiel nannte sie den Klimarat. Bürgerräte seien als Instrument gedacht, um bestimmte Sachfragen von verschiedenen Menschen erarbeiten zu lassen. Es gelte, mit vielen Leuten auf einen Zweig zu kommen.
"Der Wiener Kreis hat als Gruppe, als Kollektiv, gut funktioniert", betonte die Philosophin Esther Heinrich-Ramharter von der Universität Wien. Deshalb seien die Gespräche auch so gut gelaufen. Wichtig sei es, sich anzuschauen, wie solche Kollektive funktionieren, um ans Ziel zu kommen. Da sei ein Blick auf den Wiener Kreis ein wichtiger.

Sprachliche Klarheit schaffen

Das Ziel sollte sein, sprachliche Klarheit zu schaffen, so Nemeth. "Das kann man von Wittgenstein und den Leuten im Wiener Kreis lernen." "Wittgenstein verändert die Art, wie man denkt - nämlich in Sturheit verstehen zu wollen, was der andere denkt", ergänzte Heinreich-Ramharter. Dies fördere nicht nur den politischen Umgang. Auch die Philosophen selbst sollten sich selbst verlangen, wieder eine klare Sprache sprechen zu können, so Stadler.
Mit diesem Gedankenaustausch schloss die Diskussion "Dialogic", die einmal mehr von der Wittgensteingesellschaft, der Wienbibliothek im Rathaus und der "Wiener Zeitung" veranstaltet wurde. Anlass dafür war das Erscheinen des Sammelbandes "Wittgenstein and the Vienna Circle", herausgegeben von Friedrich Stadler. Das 44. Internationale Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel findet heuer von 6. bis 12. August mit dem Fokus auf Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus statt.