Solomia Melnyk am Maidan. - © Maxim Dondyuk
Solomia Melnyk am Maidan. - © Maxim Dondyuk

Kiew. Er war Schauplatz und Symbol der Revolution: der Unabhängigkeitsplatz in Kiew, der "Maidan". Dieser Tage jährt sich die proeuropäische Protestbewegung zum fünften Mal. Am 21. November 2013 nahmen die Proteste ihren Ausgang, als der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch überraschend angekündigt hatte, das geplante EU-Assoziierungsabkommen nun doch nicht zu unterschreiben. Am Abend protestierten Studenten in Kiew gegen diese Entscheidung und wurden wenige Tage später von der Polizei brutal zusammen geschlagen. Die "Wiener Zeitung" hat fünf junge Ukrainer getroffen, die damals auf dem Maidan dabei waren.

Andrij Senkiw (23), Sportjournalist

Zur Zeit des Maidan habe ich in Lwiw (Lemberg) gelebt. Ich bin zwei Mal nach Kiew gefahren, um die Proteste zu unterstützen. Dabei habe ich mich mit einem Freund und Kollegen in meiner Sportredaktion abgelöst. Wir konnten nie gemeinsam nach Kiew fahren, weil einer von uns in der Redaktion bleiben musste. Das letzte Mal war ich am Maidan, kurz bevor geschossen wurde. Als ich wieder zurück nach Lwiw gekommen bin, ist wiederum mein Freund auf den Maidan hingefahren. Er war sehr mutig und hat sich vor nichts gefürchtet. Hier war er in seinem Element. Er ist aber nicht mehr zurückgekommen. Er wurde hier ermordet.

Natürlich ist es furchtbar, dass der Krieg im Donbass bis heute anhält, unser Land in einer Krise steckt und noch immer niemand für die Morde auf dem Maidan verurteilt wurde. Die neue Regierung und der Präsident sind an die Macht gekommen, weil die "Himmlische Hundertschaft" (die mehr als 100 getöteten Maidan-Aktivisten, Anm.) gestorben ist. Trotzdem haben sie kein Interesse daran, die Morde aufzuklären. Aber der Vater meines Freundes macht weiter, obwohl er seinen Sohn verloren hat. Er ist Aktivist und fährt in die Ostukraine, um unsere Soldaten an der Front zu unterstützen. Wenn er nicht enttäuscht ist, haben auch wir kein Recht, enttäuscht zu sein. Wir sollten uns ein Beispiel an ihm nehmen. Sein Sohn ist gestorben, damit wir die Chance auf ein besseres Leben haben.

Heute denke ich, dass es das größte Problem der Revolution war, dass sie sich nur gegen etwas - den Präsidenten Wiktor Janukowitsch - gerichtet hat. Und nicht für etwas. Damals war es natürlich wichtig, einen gemeinsamen Feind zu haben, weil erst so konnten so viele Menschen in ihrem Kampf vereint werden. Aber wir haben geglaubt, dass Janukowitsch die Macht abgibt und alles gut wird. Das war vielleicht naiv. Ich bin auch heute noch gegen Janukowitsch, aber ich bin der Meinung, dass wir die Revolution noch nicht bis zum Ende gebracht haben.

Das Leben in der Ukraine ist schwieriger geworden mit dem Krieg und der Wirtschaftskrise. Aber die Politik heute ist trotzdem besser als vor 2014. Es hat konkrete Reformen gegeben, etwa im Bereich Medizin oder bei der Polizei. Die Korruption kann nicht einfach so, von einem Tag auf den anderen, beendet werden. Vor 2013/14 habe ich mir eigentlich nicht viel aus Politik und Reformen gemacht - im Gegenteil: Ich dachte, dass wir ohnehin keinen Einfluss haben. Das hat sich mit dem Maidan geändert.

Solomia Melnyk (34), Schauspielerin und Musikerin

Ich war praktisch die ganze Zeit auf dem Maidan, vom Anfang bis zum Ende. Als ich zum ersten Mal hier war, ist mir sofort klar geworden, dass ich unmöglich einfach so wieder weggehen kann. Es war irgendwie wie ein magischer Ort, an dem andere Gesetze herrschen. Wie ein Staat im Staat. Am Anfang hat alles auch noch wie ein großes Kulturfest gewirkt, ein Festival der Kunst, der Freiheit und der Schönheit. Die Menschen haben sich zusammengeschlossen und gegenseitig unterstützt.

Jeder von uns hat getan, was eben zu tun war. Wir sind mit unserer Theatergruppe "Dakh Daughters" auf der Bühne und selbst auf den Barrikaden aufgetreten, um die Nachtwärter zu unterhalten und von der Kälte abzulenken. Ich habe Tee und Suppe gekocht, direkt auf der Straße, habe Essen, Kleidung und Medikamente verteilt. Ich habe Journalisten mit Übersetzungen geholfen. Wir haben praktisch hier am Maidan gewohnt.

Heute ist der Maidan für mich ein Ort, schrecklich und schön zugleich. Vielleicht ist das immer so, wenn etwas so Großes wie eine Revolution passiert. Wenn ich hier bin, überwältigen mich meine Gefühle. Es gibt so viele schöne, aber auch so viele furchtbare Erinnerungen an diese Zeit. Als die Sonderpolizei Berkut die Leute auseinandergejagt hat. Als die ersten Menschen gestorben sind. Hier, hinten, haben sie die Leichen abgeladen. Das war so schrecklich. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass es heute, im 21. Jahrhundert, möglich ist, dass eine Regierung im Zentrum einer Stadt einfach so Menschen töten kann. Es war furchtbar, als das Gewerkschaftshaus gebrannt hat, in dem eigentlich der Revolutionsstab untergebracht war. Als Schülerin hatte ich hier meinen Abschlussball. Zugleich hat es aber auch viel Schönes gegeben. Wie sich die Leute zusammengeschlossen und einander geholfen haben. Welche Kunstwerke hier entstanden sind. Dieses Gefühl des Zusammenhalts, der Liebe und der Freude - das sind Erinnerungen, die man eigentlich nicht beschreiben kann und die ich nie vergessen werde. Wie eine große ukrainische Familie, die das Bewusstsein vereint, dass wir etwas in diesem Land verändern wollen und auch können.

Für die Ukraine war das keine Revolution, sondern eigentlich eine Evolution, ein Entwicklungsschritt. Die Revolution ist danach zu einem Krieg angewachsen. Wir müssen weiterhin für die Freiheit und Integrität unseres Landes kämpfen.

Jaroslaw Kutscher (31), IT-Unternehmer

Ich bin schon seit der Jugend politisch aktiv. Als Student habe ich an der Orangen Revolution teilgenommen, später habe ich die Jugendorganisation des "Blocks Julia Timoschenko" geleitet.

Auf dem Maidan war ich für die Hauptbühne verantwortlich. Bevor sich die Oppositionsparteien eingeschaltet haben, war noch alles sehr chaotisch. Das ist meine persönliche Meinung, aber ohne die Politik hätte der Maidan zu nichts geführt. Später, nach dem Maidan, wurde ich zum Berater in der Stadtadministration ernannt und danach habe ich als Berater im Sportministerium gearbeitet. Bei den Parlamentswahlen 2014 habe ich auf der Liste der Partei "Batkiwschtschina" (Liste von Julia Timoschenko, Anm.) kandidiert, aber den Einzug in das Parlament nicht geschafft. Später bin ich aus der Partei ausgetreten, weil ich nicht mit dem Kurs einverstanden bin, die Regierung um jeden Preis zu kritisieren. Sie sind demokratisch gewählt, also lasst sie ihre Arbeit machen!

Wenn ich heute über den Maidan gehe, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Hier haben sich die dramatischsten Szenen abgespielt. Eines Nachts haben sie eine Leiche vor die Bühne gebracht. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun soll. Ich habe herumtelefoniert, aber alle haben geschlafen. Dann habe ich in einem Zelt einen Priester aufgeweckt, und wir haben ein Begräbnis organisiert. In den Tagen danach ist das dann schon zur Routine geworden. Schrecklich.

Seit 2014 hat es viele gute Veränderungen gegeben, wie das Freihandelsabkommen mit der EU oder die Visumfreiheit. Aber an die guten Dinge gewöhnt man sich sehr schnell. Und Reformen gehen nie schmerzlos über die Bühne. Abgesehen davon sind wir am Maidan nicht für die Visumfreiheit, sondern für unsere Würde gestanden. Ich werde niemals zulassen, dass das Andenken an den Maidan und an die Menschen, die dort gestorben sind, beschmutzt wird. Es gibt keinen Weg zurück, solange wir leben. Ich denke, die Mehrheit der Ukrainer denkt so wie ich.

Ich bin stolz, dass wir es gemeinsam geschafft haben, diesen Sieg zu erringen. Wir sind für die richtigen Werte eingetreten. Es war keinesfalls umsonst. Unsere politische Kultur muss sich ändern, und ich schätze, 30 Prozent der politischen Kultur haben sich bereits geändert. Aber es ist eine Generationenfrage. In zehn Jahren werden wir schon wieder viel weiter sein. Als ich noch Student war, hat mich die Friedrich-Naumann-Stiftung nach Deutschland eingeladen, damit ich sehen kann, wie die Parteien in Deutschland funktionieren. Ich möchte betonen: Die EU hat nicht umsonst in uns investiert. Die Ukraine macht Fortschritte und kehrt dorthin zurück, wo sie hingehört: in die europäische Familie.

Tamara Schewtschuk (23), Künstlerin

Ich habe schon in den Jahren vor dem Maidan immer wieder an Studentenprotesten teilgenommen. Damals war ich im zweiten Studienjahr auf der Kunstuni. Als die Studenten (in der Nacht von 29. auf 30. November, Anm.) von der Polizei zusammengeschlagen wurden, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Auch für mich. Am nächsten Tag war ich dann auf dem Maidan. Irgendwie haben wir gewusst, dass es diesmal nicht mit Studentenprotesten alleine getan sein wird. Die Unzufriedenheit im Land war einfach zu groß.

Auf dem Maidan habe ich mich um ganz alltägliche Dinge gekümmert. Ich habe Brote geschnitten und Tee verteilt. Ich habe auch Plakate gemalt. Als es die ersten brutalen Zusammenstöße gab, ist mir klar geworden, dass Brote und Plakate alleine nicht mehr reichen werden. Deswegen habe ich mich dann um die medizinische Versorgung gekümmert und einen Schnellkurs zur Krankenschwester gemacht. Ich habe angefangen, Verletzte zu versorgen und anderen beizubringen, wie man Hilfe leisten kann. Bis heute trage ich immer eine kleine Apotheke mit mir herum: Verbandszeug und Desinfektionsmittel.