Der Nationalstaat ist passé, aber was sind die Folgen? Robert Menasse und Konrad Paul Liessmann im Streitgespräch über Europa. - © Stanislav Jenis
Der Nationalstaat ist passé, aber was sind die Folgen? Robert Menasse und Konrad Paul Liessmann im Streitgespräch über Europa. - © Stanislav Jenis

"Wiener Zeitung": Nach rund 200 Jahren steht die Idee des Nationalstaats in Europa auf dem Abstellgleis; es sieht aus, als ob ihm die Finanzkrise ausgerechnet in seinem Ursprungskontinent den Todesstoß versetzt. Wäre da nicht eine kleine Würdigung dieser Idee angebracht, Herr Menasse?

Robert Menasse: Der Nationalstaat war in einem gewissen Moment der Geschichte zweifellos ein Fortschritt, wahrscheinlich sogar eine Notwendigkeit, sonst hätte er sich kaum durchgesetzt. Nur hat sich sein Sinn heute genauso erledigt, wie das einst beim Feudalismus der Fall war. Nun müssen wir eben neue Formen der politischen und gesellschaftlichen Organisation entwickeln; dass dies notwendig ist, zeigen alle aktuellen Krisensymptome. Aber natürlich war der deutsche Nationalstaat ein politischer und wirtschaftlicher Fortschritt im Vergleich zu den vierzig kleinstaatlichen Willkürsystemen, an deren Stelle er getreten ist.

Konrad Paul Liessmann: Der Nationalstaat war nicht einmal zu seinen besten Zeiten unumstritten. Und ob der deutsche Nationalstaat tatsächlich ein Fortschritt gegenüber der Kleinstaaterei war, wage ich zu bezweifeln. Das eine hat die deutsche Klassik hervorgebracht, das andere den Faschismus - hier steht Goethe gegen Hitler. Für viele war der Nationalstaat allerdings die einzige Form, in der sie sich eine Demokratisierung vorstellen konnten. Die Idee der Nation richtete sich gegen den Feudalismus, deshalb empfinden wir im 19. Jahrhundert und in der ehemaligen Dritten Welt nationale Bewegungen als fortschrittlich, transnationale Einrichtungen wie das Habsburgerreich z.B. dagegen als reaktionär. Die Übersteigerung der Nation zum Nationalismus hat dann Europa in den Abgrund geführt. Nach 1945 folgte die Verzahnung von Nationalstaat, Demokratie und - als neues Element - Wohlfahrtsstaat. Das macht es heute so schwer, sich von diesem Konzept zu verabschieden, auch wenn die realen Verflechtungen längst die nationalen Grenzen verlassen haben. Historiker sprechen bereits von einer neuen feudalen Epoche, in der transnationale Konzerne die Rolle der Adelsfamilien übernommen haben. Der Nationalstaat hat seine gestaltende Kraft verloren, nur die sozialen Folgekosten der Globalisierung werden nach wie vor ihm zugeschlagen.

Diese Diagnose stößt bei den meisten Entscheidungsträgern auf Zustimmung. Das Problem ist nur, dass viele Wähler, vielleicht sogar die Mehrheit, sich nicht von der Illusion eines umsorgenden Nationalstaats verabschieden wollen.

Menasse: Wir wissen, dass das allgemeine öffentliche Bewusstsein nie die Avantgarde war . . .

"Euer Frieden, euer Preis, Nobel 2012": Slogan auf dem EU-Parlamentsgebäude in Straßburg. - © reu
"Euer Frieden, euer Preis, Nobel 2012": Slogan auf dem EU-Parlamentsgebäude in Straßburg. - © reu

Ja, aber die Bürger wollen ihren Politikern nicht länger freie Hand lassen. Es gibt neue Formen der Mitbestimmung, der Politik fällt es schwer, gegen das Bauchgefühl der Wähler zu regieren.

Menasse: Das Problem sind nicht diese neuen Entwicklungen, sondern die heutige Elite, die aus verschiedenen Gründen keinen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch mehr hat. Die einfachsten Dinge sind in Vergessenheit geraten. Wir wissen heute, in welchen Abgrund uns der Nationalstaat geführt hat, deshalb ist es unsere Aufgabe, diese Form zu überwinden. Die Bürger spüren sehr wohl, dass Ansprüche an und Möglichkeiten der nationalen Demokratie nicht mehr zusammenpassen, dass alles durch die Globalisierung ins Wanken geraten ist. Die Versuche, in Schottland, in Katalonien oder in Norditalien neue Nationen zu schaffen, sind keine Rückkehr zum Nationalstaat, sondern das Gegenteil: Weil der Nationalstaat gescheitert ist, zerbricht er. Je präziser, je bewusster wir diese Dinge diskutieren, desto umsichtiger können wir die Zukunft aufbauen.

Liessmann: Ich warne davor, alles in einen Topf zu werfen. Die USA etwa sind ein klassischer Territorialstaat, aber sicher kein Nationalstaat im europäischen Sinn . . .

Menasse: Natürlich sind die USA ein Nationalstaat!

Liessmann: Die USA haben keine Fiktion einer homogenen Nation, nicht einmal mehr die einer homogenen Sprachnation.

Menasse: Im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf gab es keine Rede, wo nicht Größe und Glorie der Nation beschrieben wurde. Natürlich sind die USA ein Nationalstaat, sie sind das alte europäische Projekt: Zuerst wurde von europäischen Einwanderern Territorium erobert und anschließend eine fiktive nationale Einheit durch einen Bürgerkrieg, einen nationalen Einigungskrieg ungeachtet aller Unterschiede geschaffen - also klassische Nationswerdung durch Krieg und Gewalt. Das neue Europa dagegen ist das Projekt unserer Union, die eben nicht durch Gewalt und Unterwerfung, sondern durch freiwilligen Beitritt und auf vertraglicher Grundlage geschaffen wird und die auch nicht Nationswerdung zum Ziel hat, sondern die Überwindung der Nationen in einer freien Assoziation von Regionen. Das ist die Avantgarde.

Liessmann:Einigen wir uns darauf, dass der Nationalstaat das alte Modell darstellt, die USA eine andere Version davon umgesetzt haben und Europa jetzt etwas Neues versucht. Am Ende wird aber auch die EU alle Attribute eines Territorialstaats aufweisen: klare Grenzen, eine Armee, Kompetenzaufteilung nach innen und Repräsentation nach außen. Diese Fragen müssen gelöst werden, völlig unabhängig davon, wie sich die Union im Inneren organisiert. Da werden zwar die nationalen Grenzen an Bedeutung verlieren, dafür aber neue soziale Grenzen umso wichtiger werden. Ja, Europa integriert sich, doch durch die Wirtschaftskrise sind soziale Ungleichgewichte entstanden, wie sie Europa in den vergangenen 50 Jahren nicht gekannt hat. Breite Teile der europäischen Mittelschicht sind gefährdet; bestausgebildete Jugendliche haben keine Perspektive, aber das Wohl der Konzerne und die Gewinne der Privatisierer erscheinen als gemeinsame europäische Angelegenheit - das kann nicht ohne Auswirkungen bleiben.