Noch immer arbeiten Forensiker und Anthropologen daran, Opfer des Massakers von Srebrenica zu identifizieren. - © Michael Biach
Noch immer arbeiten Forensiker und Anthropologen daran, Opfer des Massakers von Srebrenica zu identifizieren. - © Michael Biach

Sarajevo. Umgeben von Nachbarn und Verwandten sitzt Hajrija Selimovic auf einer kleinen Bank vor ihrem Haus nahe Bratunac und erinnert sich an die schrecklichen Ereignisse vor 19 Jahren. "Ich lebte damals zusammen mit meinem Mann und meinen Söhnen als Flüchtling in Srebrenica", berichtet Sie mit schwerer Stimme. "Wir hatten nicht viel, aber wir hatten etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und den Willen zu überleben". Hajrija, ihr Mann Hasan und die damals 19- und 25-jährigen Söhne Nermin und Samir waren in der von der UN als Schutzzone deklarierten Enklave zusammen mit bis zu 25.000 anderen Bosniaken von den umliegenden Truppen der bosnischen Serben unter Führung von Ratko Mladic eingekesselt. "Ich weiß noch, als Nermin zu mir kam und davon sprach, dass etwas Entsetzliches passieren wird", Hajrija erinnert sich daran, als ob es gestern gewesen wäre. "Sein Gesicht war noch ängstlicher als sonst. Wir alle konnten fühlen, dass etwas passieren würde." Es war der 11. Juli 1995. Wenig später nehmen Mladics Truppen Srebrenica ein. Philippe Morillon, der frühere Kommandant der Unprofor in Bosnien, hatte die mehrheitlich von Bosniaken bewohnte Stadt 1993 zur UN-Schutzzone erklärt, im Gegenzug mussten die Einwohner sämtliche Waffen abgeben. Schützen konnten die Vereinten Nationen sie schließlich nicht. Mladics Truppen und serbische Paramilitärs wie die gefürchteten Skorpione standen weniger als 400 unerfahrenen holländischen Friedenstruppen gegenüber. Noch am selben Tag wurden Männer und Jungen von Frauen und Kindern getrennt und schließlich in der Umgebung von Srebrenica systematisch exekutiert. Mindestens 8372 Menschen wurden Opfer des mittlerweile als Völkermord titulierten Massakers.

"An diesem Tag durfte ich meine Söhne und meinen Mann zum allerletzten Mal in den Arm nehmen", erinnert sich Hajrija schmerzlich. In den kommenden zehn Jahren konnte ihr niemand sagen, was aus ihrer Familie geworden war. Zerrissen zwischen unrealistischer Hoffnung und offensichtlicher Gewissheit, wurde jeder Tag zur Qual. "Irgendwann wurde ich dann informiert, dass sie den Kopf meines Mannes gefunden haben", sagt die Witwe trocken und ergänzt gleich weiter: "Wo sein Körper war, wusste damals niemand."

Viele der ursprünglichen Massengräber, auch Primärgräber genannt, wurden in den Tagen nach dem Massaker von den Tätern exhumiert und in neuen, sogenannten Sekundärgräbern, vergraben um die Spuren des Genozids zu vertuschen. Dies hat zur Folge, dass die Teile einer Leiche auf unterschiedliche Orte verteilt sind.

"Das macht unsere Arbeit ja überhaupt erst so schwierig", erzählt Dragana Vucetic, forensische Anthropologin des Internationalen Komitees für vermisste Personen (ICMP). Das ICMP wurde 1996 auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton beim G7-Gipfel im französischen Lyon ins Leben gerufen. "Die Toten von Srebrenica haben wir in über 300 verschiedenen Massengräbern entdeckt", berichtet Vucetic, "und das sind bei weitem noch nicht alle." Immer wieder gibt es Hinweise aus der Bevölkerung, tauchen neue Satellitenbilder auf oder es werden vereinzelte Knochen in den Wäldern entdeckt.

"1000 Tote haben ihre letzte Ruhe noch nicht gefunden"


6066 Opfer wurden bislang im Rahmen der jährlich seit 2003 stattfindenden Begräbnisse zum Jahrestag des Massakers in Potocari, jenem Ort, an dem die niederländischen Blauhelme ihr Quartier hatten und zu dem die späteren Opfer in einem letzten verzweifelten Versuch der Hoffnung geflohen waren, beigesetzt. Am heutigen 11. Juli kommen 175 weitere dazu. "Knapp 1000 Tote haben noch immer nicht ihre letzte Ruhe gefunden", erzählt die Anthropologin. Der Weg zur Identifizierung eines Opfers ist komplex und vor allem auch für die Verwandten psychisch oft nur schwer bewältigbar. Werden neue Leichenteile entdeckt, setzt sich ein mühseliger Prozess in Gang, der seinen Anfang auf einem metallenen Seziertisch in der forensischen Einrichtung des ICMP in Tuzla, der Arbeitsstätte von Dragana Vucetic, hat. "Knochen, Kleidung und Habseligkeiten der Toten werden gereinigt, registriert und fotografiert", berichtet Dragana. Alsbald werden Knochenproben entnommen und ins nahegelegene Labor geschickt, wo sie dekontaminiert und in einer speziellen Lösung gewaschen werden. "Unser Labor ist auch für die Blutproben der Angehörigen zuständig", erläutert Edin Jasaragic, Chef der Identification Coordination Division (ICD). Das ist besonders wichtig, denn ohne Referenzprobe eines Verwandten ist die Identifikation aussichtslos. In immer wiederkehrenden Kampagnen und mit mobilen Blutabnahmestationen, welche unter anderem auch in Österreich zum Einsatz kamen, versucht das ICD, Hinterbliebene zur Abgabe von Proben zu bewegen. "Wir haben sogar Blutspenden von Verwandten aus Australien erhalten", erzählt Jasaragic freudig. Doch oft sind es vor allem die Knochenproben, die den Forschern Sorgen bereiten. "Der Zustand der DNA, die aus den Gebeinen entnommen wird, variiert sehr stark", erläutert Ana Bilic, Chefin im DNA-Labor des ICMP in Sarajevo, die Situation. Mit einem würfelförmigen Automaten können die Wissenschaftler aus kleinen Mengen des Erbgutes aber für die Identifizierung notwendige große Stränge reproduzieren und dann damit arbeiten. "Dadurch war es uns möglich, den Opfern ihre Namen und deren Verwandten ihre Toten zurückzubringen", Ana Bilic lässt keinen Zweifel daran, dass dies die wichtigste Aufgabe des Komitees ist.