Die Aktivitäten der Organisation blieben nicht nur auf die Kriege im ehemaligen Jugoslawien beschränkt. Das ICMP war unter anderem im Irak und in Afrika tätig, maßgeblich an der Identifizierung der Opfer des Tsunamis von 2004 und Hurricane Katrina 2005 sowie an der späten Identifizierung von Opfern des Pinochet-Regimes in Chile beteiligt. Bis heute hat das Komitee knapp 90.000 Proben von Verwandten von knapp 30.000 Vermissten genommen, etwa zwei Drittel davon betreffen die Konflikte in der Balkanregion. Weltweit wurden bisher über 17.000 Personen identifiziert.
Beerdigung in Potocari 19 Jahre nach dem Massaker
Zurück in Tuzla bei Forensikerin Dragana Vucetic lagern in einer ungekühlten stickigen Halle mehrere hundert Leichensäcke mit bereits identifizierten Gebeinen. "Bei all diesen Opfern ist das Knochengerüst jedoch nicht komplett. Manchmal ist nur der Torso vorhanden, manchmal nur Arme oder Beine", fasst sie die Situation trocken zusammen. Sobald das ICMP jedoch Knochen identifizieren konnte, bekommen die Verwandten einen Anruf. Es ist ihnen freigestellt, ob sie die sterblichen Überreste beisetzen lassen oder nicht. Die meisten Hinterbliebenen entscheiden sich aber dafür, mit einer Beerdigung noch zu warten, bis möglichst alle Gebeine entdeckt und eindeutig bestimmt werden konnten. Im Fall von nahen Verwandten ist auch oft nicht restlos geklärt, um wen es sich konkret handelt.
Hajrija Selimovic erinnert sich schmerzlich an einen Anruf, den sie vor einigen Jahren bekommen hat: "Man hat mir gesagt, mein Sohn wurde gefunden. Nur wussten sie nicht welcher." War es Nermin oder Samir? Oder alle zwei? Zur traurigen Gewissheit, dass ihre Söhne ermordet wurden, kam die Ungewissheit, wo sich alle Knochen beider Kinder befinden. Hajrija entschied sich, abzuwarten. Während dieser Zeit erlebte sie nach eigenen Aussagen täglich noch einmal die Trauer über den Verlust der eigenen Kinder. "Meine größte Angst war es, zu sterben, bevor ich meine Söhne und meinen Mann beerdigen konnte", klagt Hajrija.
Beim ICMP kennt man diese Sorgen zur Genüge. Jasmin Agovic, Öffentlichkeitssprecher des Komitees, fasst die Situation emotional zusammen: "Stellen Sie sich vor, Sie eröffnen einem Menschen, dass seine vermissten Verwandten tot sind. Es wurden Leichenteile gefunden, identifiziert und es kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Person tot ist. Nur liegen eben nicht alle Knochen in dem Plastikleichensack, daher entscheidet sich der Hinterbliebene, mit einer Beerdigung abzuwarten. Dann wird ein neues Massengrab entdeckt, neue Leichenteile des toten Verwandten werden identifiziert, aber wieder fehlen einige." Man erkennt an Jasmins Ausdruck, wie häufig solche Situationen vorgekommen sein müssen, wie Mitarbeiter vor der Entscheidung stehen, ob sie bei jedem einzelnen identifizierten Knochen zum Telefon greifen, die Hinterbliebenen benachrichtigen und diese erneut den psychischen Extremsituationen aussetzen, oder weiterarbeiten. "Was machen Sie", fragt Jasmin? Abwarten? Was, wenn nie alle Knochenteile gefunden werden oder wenn die Hinterbliebenen in der Zwischenzeit versterben? "Der Prozess von der ersten Identifizierung bis zur Bestattung ist für alle Beteiligten psychisch belastender, als Außenstehende dies wahrnehmen können."
Vor einem Jahr konnte Hajrija ihren Mann Hasan beerdigen. Einige Monate später folgte der langersehnte Anruf des ICMP, dass auch die kompletten Überreste ihrer beiden Söhne identifiziert wurden.
Am heutigen Gedenktag in Potocari werden Nermin und Samir neben ihrem Vater im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 19. Jahrestag des Genozids beerdigt. Insgesamt werden 175 Menschen ihre letzte Ruhe finden. Das älteste Opfer war der 79-jährige Hurem Begovic. Das jüngste Opfer der 14-jährige Senad Beganovic, dessen Überreste in vier unterschiedlichen Massengräbern gefunden wurden. "Den Opfern ihre Namen und den Verwandten ihre Toten zurückgeben": Ohne den unermüdlichen Einsatz des ICMP wäre das wohl nicht denkbar.