Istanbul. Bekommt Präsident Recep Tayyip Erdogan mit einer Verfassungsänderung einen guten Teil der Staatsmacht in seine Hand? Das ist die zentrale Frage, um die es für seine Partei AKP bei den Parlamentswahlen am 7. Juni geht. Um die türkische Demokratie zu einem Präsidialsystem umzubauen, benötigt Erdogans Partei eine möglichst breite Mehrheit. Die Opposition ist strikt dagegen.

"Verhältnisse wie in Weißrussland"

"Wenn die AKP diese Wahlen eindeutig gewinnen sollte, dann werden wir in der Türkei Verhältnisse wie in Weißrussland, Usbekistan oder Nordkorea bekommen", meint etwa der Politologe Ersin Kalaycioglu. Es drohe ein "totalitäres System", warnte Kalaycioglu.

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der 2001 die islamisch-konservative AKP mitgründete und bis zum August letzten Jahres als Ministerpräsident regierte, sei "absolut korrupt", wie der Skandal vor eineinhalb Jahren jedem gezeigt habe, so Kalaycioglu, der an der Sabanci-Universität in Istanbul unterrichtet. Die türkische Regierung war Mitte Dezember 2013 von einem Korruptionsskandal erschüttert worden. Auch gegen Familien mehrerer Minister wurde zeitweise unter anderem wegen Geldwäsche ermittelt. Erdogan sah darin eine Kampagne gegen seine Politik und reagierte mit einer "Säuberungswelle" in Polizei und Justiz. "Die einzige Art und Weise, für Erdogan an der Macht zu bleiben, ist deswegen die Ausweitung der Autokratie", sagt Kalaycioglu.

Gigantische Korruption

Dass die AKP nach dem gigantischen Korruptionsskandal die Kommunalwahlen im März 2014 und Erdogan die Präsidentschaftswahlen im August gewinnen konnte, erklärt der Politikwissenschaftler so: "Die meisten AKP-Wähler gehören zum ungebildeten Proletariat. Sie haben keine Zeit für den Konsum kritischer Medien, weil sie mit dem Überleben mit Niedriglohnjobs beschäftigt sind", sagt er. "Diese Menschen interessieren sich nicht dafür, ob Journalisten inhaftiert werden, oder das Internet zensiert wird."

Denn seit dem Regierungsantritt der AKP 2002 habe die Partei das Verkehrsnetz, dass Sozialsystem und das Gesundheitswesen ausgebaut, "was aber Selbstverständlichkeiten einer jeden Regierung sind". Dennoch hätten viele Türken Angst, genau diese Vorteile bei einer Abwahl der AKP zu verlieren.

Zwei-Drittel-Mehrheit in weiter Ferne

Um Verfassungsänderungen auf direktem Wege beschließen zu lassen, braucht Erdogan eine Zwei-Drittel-Mehrheit von 367 Abgeordneten im 550 Sitze umfassenden Parlament von Ankara. Zu Beginn des Wahlkampfs rief Erdogan die Wähler deshalb auf, sie sollten 400 Abgeordnete ins neue Parlament wählen, die für das Präsidialsystem eintreten.

Allerdings wurde sehr schnell deutlich, dass dieses Ziel zu hoch gesteckt war: Selbst bei ihrem Wahltriumph von 2011, bei der sie fast 50 Prozent der Stimmen einfuhr, erhielt die AKP lediglich 327 Volksvertreter. Nach einigen Austritten aus der Fraktion hat sie derzeit noch 312 Abgeordnete.

Erdogan hat inzwischen seinen Appell an die Wähler abgeändert. 335 Abgeordnete im Parlament würden ihm auch genügen. Denn in der Türkei kann eine Drei-Fünftel-Mehrheit des Parlaments - 330 Abgeordnete - geplante Verfassungsänderungen einer Volksabstimmung vorlegen. Erdogan baut darauf, dass die Wähler das Präsidialsystem in einem Referendum mit einer Mehrheit von mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen abnicken würden.

Kurden könnten AKP aufhalten

Doch nach einigen Umfragen rückt auch die Marke von 330 Abgeordneten für die AKP inzwischen in weite Ferne. Trotz eines erwarteten Stimmenanteils zwischen 40 und 45 Prozent muss die AKP damit rechnen, im neuen Parlament weit weniger Sitze zu haben als bisher. Besonders ein Einzug der Kurdenpartei HDP ins Parlament würde der Regierungspartei das Leben schwermachen.