"Wiener Zeitung":20 Jahre ist Ihre Flucht aus Srebrenica her. Wie kam es damals zu der Entscheidung, zu fliehen?
Zijad Ibric: Ich lebte 1995 seit knapp drei Jahren mit meiner Familie als Flüchtling in Srebrenica. In den Tagen vor dem 11. Juli wurde immer deutlicher, dass eine Erstürmung der Stadt durch die serbischen Truppen bevorsteht. Uns war klar, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelt. Viele Bewohner hofften auf den Schutz durch die stationierten UN-Soldaten, die meisten hatten jedoch weniger Zuversicht. Aber auch eine Flucht galt als beinahe unmöglich. Dennoch formierte sich gegen Mitternacht eine riesige Kolonne mit dem Ziel, das freie Tuzla zu erreichen. Ich wusste, wenn ich in Srebrenica bleibe, dann werden sie mich töten. Wenn ich flüchte, dann sterbe ich wahrscheinlich auch, aber es bleibt zumindest die Hoffnung.
Die Flüchtlingskolonne war mehrere Kilometer lang und bestand aus tausenden Personen. Wie war der Zug organisiert?
Die Vorhut übernahmen bosnische Soldaten und die kräftigsten Männer aus Srebrenica. Auch meine Brüder und ich gingen an der Spitze mit. Es gab nur wenige Waffen, denn diese mussten wir einige Jahre davor im Gegenzug für den UN-Schutz abgeben. Bis zum Morgengrauen kamen wir rasch voran und legten etliche Kilometer zurück, bis wir schließlich die serbischen Stellungen erreichten und offenes Gelände queren mussten. Von diesem Zeitpunkt an war es die Hölle. Unser Zug wurde immer wieder mit Granaten beschossen und kam nicht mehr voran. Viele starben oder wurden schwer verwundet. Auch fehlten uns die militärischen Mittel, um uns erfolgreich durchzukämpfen. Wir wurden in viele Gruppen zerstreut und verteilten uns im Wald. Hinzu kam, dass das Gelände vermint war, auch das forderte zahlreiche Opfer. Meine Brüder und ich formierten mit mehreren Dutzend Männern eine neue Gruppe. Wir versteckten uns im Wald und gingen erst in der Dämmerung weiter.
Jene Flüchtlinge, die überlebten, erreichten oft erst nach Wochen das freie Territorium nahe Tuzla. Wie kam Ihre Gruppe voran?
Wir hatten keine Waffen zur Verteidigung und kaum Lebensmittel. Manche von uns hatten nicht einmal Schuhe und trugen Plastiksäcke um die Füße. Nach Tagen unter Beschuss waren wir verzweifelt und paralysiert, wir redeten kaum mehr ein Wort miteinander und versuchten nur, zu überleben. Wir wussten, dass Srebrenica gefallen war und uns niemand zu Hilfe kommen würde und dass die einzige Möglichkeit darin besteht, weiter zu marschieren. Was sich aber tatsächlich abspielte, konnten wir nur erahnen. Weit entfernt hörten wir immer wieder deutliche Rufe, dass wir aus unseren Verstecken kommen können und in Sicherheit wären. Aber wir wussten, dass das eine Falle war. Das Schlimmste aber waren die Gewehrsalven aus der Entfernung. Dann wussten wir, dass die Serben jemanden entdeckt und getötet hatten.