Dass der Gerichtshof zu den Menschen geht, den Überlebenden und ihren inzwischen geborenen Nachkommen, ist offensichtlich nötig. Ebenso wie die Bewegung in die umgekehrte Richtung: Denn ohne die Zeugen aus Bosnien und Kroatien, Serbien und dem Kosovo hätte in Den Haag kein einziges Verfahren stattfinden können. Mehr als 4600 waren es seit dem ersten Prozess 1996 - knapp die Hälfte aus Bosnien, 10 Prozent aus Kroatien 13 Prozent aus Serbien, der Rest aus Ländern, in die sie inzwischen migriert waren.
Der letzte Ort, den sie vor ihrer Aussage aufsuchten, liegt im zweiten Stock des Tribunals. Eine kleine Sitzecke mit Polstermöbeln um einen niedrigen Tisch, ein Kühlschrank in der Ecke vor einer blassgelben Wand. Das ist der bescheidene Witness-Waiting-Room. Zwei Wochen vor dem letzten Urteil hat Helena Vranov-Schoorl noch einmal hier Platz genommen, wo sie hunderte von Stunden mit den Zeugen wartete. Sie ist die Vorsitzende der "Victims and Witnesses Support and Operations Unit" (VWS).
Vor 16 Jahren kam die frühere Sozialarbeiterin, die als Jugendliche mit den Eltern aus Kroatien in die Niederlande zog, ans ICTY. Die Zeugen-Abteilung, zu Hochzeiten mit über 40 Mitarbeitern und heute mit 17, ist neutral zwischen Anklage und Verteidigung und daher ein logistischer Knotenpunkt des Tribunals. Sie nimmt Kontakt mit den betreffenden Personen auf, regelt jeden nötigen Schritt für die Reise nach Den Haag, besorgt Tickets, Visa und womöglich eine Betreuung für Kinder oder andere Angehörige, wenn die Zeugen ihre rund einwöchige Reise antreten.
"Wenn nötig, begleiten wir sie auch unterwegs", sagt Helena Vranov-Schoorl. "Jedenfalls holen wir sie vom Flughafen ab, bringen sie ins Hotel und ins Gericht. Wir zeigen ihnen Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten und sind 24 Stunden für sie erreichbar - auch nach ihrer Rückkehr." Auch Sicherheitsmaßnahmen kann die VWS veranlassen, wenn sich das im Gespräch als nötig herausstellt. Knapp 30 Prozent entschieden sich dafür, während der Aussage Stimme, Gesicht oder ihren Namen zu verändern. Wut, Trauer, Verletzbarkeit, Traumatisierung - all dies hat Vranov-Schoorl bei Zeugen erlebt. Was die meisten eint, ist: "Sie sind glücklich, dass sie hierher kommen und ihre Geschichte erzählen können. Weil es ihre Geschichte ist, ihre Wahrheit, und sie wollen sie teilen." Das ICTY bewertet sie ausgesprochen positiv. Nicht zuletzt, weil ihre Abteilung Standards gesetzt habe, die von anderen Tribunals übernommen wurden. Und ganz allgemein findet sie: "Stell Dir vor, wo wir ständen, wenn es kein Tribunal gegeben hätte! Das sagte ein Zeuge mal zu mir. Dem schließe ich mich an."
Beliebte Anlaufstelle
für Journalisten
An sich teilt auch Nevenka Tromp diese Meinung. "Ohne das Tribunal hätten wir weniger umfassend verstanden, warum und wie es zu den Kriegen kam", bilanziert sie. "Auch bei der Verfolgung serbischer Täter in Bosnien und im Kosovo hat das ICTY sehr gute Arbeit geleistet." Über zehn Jahre lang war sie selbst als Ermittlerin in einem Investigations-Team der Anklage tätig. Wer sich näher mit dem Gericht beschäftigt, landet schnell bei der Wissenschafterin, die an der Amsterdamer Universität Osteuropa-Studien lehrt.
Wenn am Tribunal ein wichtiges Urteil ansteht, ist ihr Haus in Den Haag eine beliebte Anlaufstelle für Journalisten. Was daran liegt, dass Nevenka Tromp auf eigene Faust weitermachte, als Slobodan Miloevic 2006 nach vier Prozess-Jahren starb. Sie tauchte weiter in die Akten ein, schrieb eine Doktorarbeit und ein Buch darüber. Befund: Es gab einen Masterplan, alle Serben in Ex- Jugoslawien in einen ethnisch homogenen Staat zu vereinen. Miloevic war dessen Architekt, Karadzic und Mladic hatten bei dem Unterfangen wichtige ausführende Funktionen.
Wird die Rolle Mladics
eindeutig geklärt?
Weil Miloevic alleine angeklagt war, wurde sein Verfahren nach seinem Tod geschlossen. Damit verschwand der "übergreifende Ansatz", den Tromp bis heute vertritt, der sie schon das Urteil gegen Karadzic kritisieren ließ. Wegen des Freispruchs in einem der Genozid-Anklagepunkte. Weil er anders als mehrere bosnisch- serbische Militärs nicht lebenslänglich bekam. Und eben, weil seine Beziehungen zu Belgrad nicht ausreichend aufgeklärt worden seien. Das Gleiche befürchtet sie nun auch, wenn am Mittwoch das Urteil gegen Mladic verkündet wird. "Es wird interessant zu sehen, ob dadurch seine eigentliche Rolle geklärt wird. Ich denke, dass der Richter auch hier sagen wird, es gebe nicht genug Beweise für eine direkte Verbindung mit Serbien. Die Anklage konnte damals diesen übergreifenden Plan nicht beweisen.
Möglich ist das aber nur, wenn man seine Beweise von Belgrad aus zu den Unterteilen führt, und nicht mit einer Beweisführung von Pale ausgehend." Hoffnung hat Nevanka Tromp dennoch: Dass das Urteil "nicht kontrovers ausfällt".