Dass das Bild vom Nazi vorwiegend männlich geprägt ist, hat in erster Linie damit zu tun, dass im NS-Staat die wichtigen Entscheidungsträger Männer gewesen sind. Folgerichtig sind in den Schulbüchern und sonstigen didaktischen Werken zur NS-Zeit hauptsächlich männliche Nazis abgebildet. Sprachlich hat sich für "Nazi" deshalb auch keine spezifisch weibliche Form etabliert.

Ein Foto von Lothar Rübelt in der aktuellen Sonderausstellung im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek zeigt eine Luxuslimousine am Tag des Großdeutschen Reiches in Wien. Im Inneren des eleganten Zweisitzers befinden sich zwei Nazi-Frauen. Vermutlich handelt es sich um Frauen oder Töchter von Nazis. Nicht allein durch den Fahrzeugaufputz, sondern auch durch ihren Habitus bringen sie zum Ausdruck, dass sie selbst begeisterte Anhängerinnen der NS-Bewegung sind und bei der für den kommenden Tag (10. April 1938) anberaumten Volksabstimmung mit Überzeugung für den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland stimmen werden.

Verzückte Frauen und Männer

Das bloß dreistellige Autokennzeichen A 664 (A stand zu jener Zeit für das Bundesland Wien) lässt auf einen hohen sozialen Status schließen. Die Pose der Frauen ermöglicht einen direkten Blick in ihre Gesichter. Man sollte das Foto mit diesen beglückten Gesichtern lange auf sich wirken lassen, es wird das Geschichtsbild zur gegenständlichen Ära erheblich abrunden.

Menschenmenge auf dem Wiener Heldenplatz, 15. März 1938 - © Foto: Herbert Glöckler/Bildarchiv ÖNB
Menschenmenge auf dem Wiener Heldenplatz, 15. März 1938 - © Foto: Herbert Glöckler/Bildarchiv ÖNB

Ein weiteres extrem ausdrucksstarkes Foto in der Ausstellung stammt von einem Amateurfotografen: Durch einen Nachlass fanden die Fotos des steirischen Forstmeisters Herbert Glöckler aus Neuberg an der Mürz ins Bildarchiv der Nationalbibliothek. Eine Nahaufnahme Glöcklers zeigt die Menschenmenge bei der Rede Adolf Hitlers am Wiener Heldenplatz am 15. März 1938. Glöckler fotografierte am Heldenplatz mitten aus der Menge, auf Augenhöhe mit den jubelnden Massen. Die in der Ausstellung gebotene Vergrößerung mit den zahlreichen verzückten (gestochen scharf abgebildeten) Gesichtern von Frauen und Männern kann für Betrachter geradezu eine Offenbarung sein.

Nach diesen Eindrücken geht es weiter zu einer Hörstation, wo mittels Kopfhörer Ernst Jandls Gedicht "wien: heldenplatz", welches sich auf die Geschehnisse vom 15. März 1938 bezieht, zu Gehör gebracht wird.

Heilsversprechungen des Gottelbocks

In der dritten Strophe erfährt das Gedicht inhaltlich seine Zuspitzung: "pirsch! / döppelte der gottelbock von Sa-Atz zu Sa-Atz / mit hünig sprenkem stimmstummel. / balzerig würmelte es im männechensee / und den weibern ward so pfingstig ums heil / zumahn: wenn ein knie-ender sie hirschelte."

Obwohl Jandl seine Verse in sprachlicher Verfremdung darbietet, ist die Aussage vollkommen klar. Noch klarer wird sie, wenn man die Eindrücke von den Bildern der Ausstellung im Kopf hat. Unschwer ist im Gedicht Adolf Hitler als "gottelbock" auszumachen. Jandl verquickt bei dieser Konstruktion Gott mit einem Bock (der als Symbol des Teufels gilt), wobei Gott zu einem "gottel" herabgemindert wird.

Der von Jandl als "gottelbock" entlarvte Dämon vermag mit seinen Heilsversprechungen eine unerhörte Glückseligkeit auf die Gesichter seiner Anbeter zu zaubern. Die Männer geraten sogar in einen Balzzustand, und die Frauen sind in "pfingstiger" Erwartung des Heiligen Geistes. Ich gehe nochmals zu den Fotografien und erkenne in den Gesichtern genau diesen Ausdruck . . .

Print-Artikel erschienen am 11. April 2013
in der Kolumne "Museumsstücke"
In: "Wiener Zeitung", Beilage "ProgrammPunkte", S. 7