Während Krieg führende Potentaten heute in erster Linie auf die Präzision von technisch ausgefeilten Geräten vertrauen, war es in der Antike und im Mittelalter für Kriegsherren wichtig gewesen, die geplanten Heerzüge unter den Schutz von himmlischen Mächten zu stellen. Eine besondere Wirkmacht schrieb man Gegenständen zu, die zuvor mit heiligen Menschen in Berührung gekommen waren. So ließen im frühen Mittelalter fränkische Herrscher den Mantel des heiligen Martin von Tours vorantragen, wenn sie in die Schlacht zogen. Bei späteren kriegerischen Auseinadersetzungen kam etliche Male der "Heiligen Lanze", die sich heute in der Kaiserlichen Schatzkammer Wien befindet, eine besondere Rolle zu.

Einer der Kriege, bei denen der Sieg auf die Wirkmacht der mitgeführten Heiligen Lanze zurückgeführt wurde, war die berühmte Schlacht am Lechfeld (bei Augsburg), bei der Otto der Große 955 den Sieg über die Magyaren errungen hatte. Diese Schlacht wurde später von Historikern als eine der bedeutendsten Zäsuren der europäischen Geschichte angesehen.

Protestantischer Pragmatismus

Im Mittelalter wurden an der Heiligen Lanze Umgestaltungen vorgenommen, wobei das Lanzenblatt zu Bruch ging und durch Ummantelung gestützt werden musste. Das hohe Ansehen, welches diese Lanze das ganze Mittelalter hindurch – und darüber hinaus – genoss, ging vor allem auf die Annahme zurück, dass darin ein Stück des Kreuznagels Christi eingearbeitet war.

Zugeschrieben wurde die Heilige Lanze zunächst dem Soldaten Longinus, der damit den Tod Jesu festgestellt haben soll. Sodann ging man davon aus, dass die Lanze mit dem eingearbeiteten Kreuznagel dem heiligen Mauritius gehört hatte.

Ungeachtet der Tatsache, dass auch an anderen Orten "Heilige Lanzen" aufbewahrt wurden, gelang es später den Inhabern des heute in Wien verwahrten Objekts, den Heiligen Stuhl in Rom dafür zu gewinnen, dass er dieses als wahre Longinus-Lanze erklärte und im Jahr 1354 sogar einen Festtag der Heiligen Lanze und der Nägel vom Kreuze Christi ins Leben rief.

Nachdem sich die Reichskleinodien samt Heiliger Lanze unter Karl IV. in Prag befunden hatten, wo einmal im Jahr auch das Lanzenfest gefeiert worden war, betraute König Sigismund ab 1424 die Stadt Nürnberg mit der "ewigen Verwahrung" des Bestands. Das jeweils am zweiten Freitag nach Ostern abgehaltene Lanzenfest verschaffte der Stadt einen regen Zulauf von Pilgern, da den Beteiligten Kraft der Heiligen Lanze, des Kreuznagels und der bei dieser Gelegenheit ebenfalls von einem Heiltumsstuhl herab gezeigten Kreuzreliquie stets ein Sündenablass zugesichert wurde.

Nachdem Nürnberg protestantisch geworden war, wurde das Lanzenfest eingestellt, zumal Martin Luther erklärt hatte, dass die Verehrung von Reliquien völlig sinn- und nutzlos sei. Jedoch legten die Nürnberger Stadtväter weiterhin Wert darauf, dass die Reichskleinodien gemäß der alten herrscherlichen Verfügung in der Stadt verblieben. Ganz pragmatisch wurde jedoch fortan hochgestellten Katholiken von auswärts die Verehrung der prominenten Reliquien in Nürnberg ermöglicht.

Erst als durch französische Truppen Gefahr drohte, entschloss man sich, die Kleinodien in Sicherheit zu bringen. Im Jahr 1800 gelangte der gesamte Bestand nach Wien an den Kaiserhof. Nach Verkündung des Endes des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation im Jahr 1806 erachtete man indes in Wien die vereinbarte Rückstellung nach Nürnberg als hinfällig. Dass die Heilige Lanze nicht aus der Antike, sondern aus dem frühen Mittelalter stammt, gilt mittlerweile als gesichert.

Print-Artikel erschienen am 5. März 2015
in der Kolumne "Museumsstücke"
In: "Wiener Zeitung", Beilage "ProgrammPunkte", S. 7