
Mit Phänomenen wie Zufall und Schicksal weiß Jan Plewka einiges anzufangen. Sein jüngstes Projekt hat beispielsweise viel mit Fügung zu tun. Plewka, Sänger der Hamburger Formation "Selig", befasste sich die vergangenen drei Jahre intensiv mit Franz Schubers Liederzyklus "Die Winterreise" - ohne darüber allzu viele Worte zu verlieren. Fast folgerichtig war es daher, dass Regisseur Stefan Bachmann dem Musiker anbot, im jüngsten Stück der Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek aufzutreten, einer Bearbeitung des nämlichen Schubert-Klassikers.
Das Ergebnis der unkonventionellen Zusammenarbeit feiert heute, Donnerstagabend, im Akademietheater Premiere.
"Kann keine Noten lesen"
"Es gibt nichts Edleres als Die Winterreise", gerät Plewka im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" ins Schwärmen. In dem Stück für Singstimme und Klavier zieht ein Ich-Erzähler mit gebrochenem Herzen nicht nur durch eisige Winterlandschaft, sondern auch durch die Abgründe seiner Seele. Die 24 Gesangsstücke, von Schubert als "Kranz schauerlicher Lieder" bezeichnet, handeln abwechselnd von Schmerz, Wut und Verzweiflung - und sind dem drahtigen Hamburger Künstler "komplett ans Herz gewachsen".
Der 42-Jährige interpretiert die Kompositionen freilich auf individuelle Art: "Ich habe noch nie vom Blatt gesungen, kann nicht Noten lesen. Ich singe den Text so, wie ich ihn fühle." Den Schubert-Melodien nimmt der Sänger so etwas von deren technischer Virtuosität. "Es klingt", lacht der Solist, "nun eher nach französischen Chansons." Plewkas Interesse an klassischer Musik wurde ursprünglich durch eine Zusammenarbeit mit dem deutschen Dirigenten und Regisseur Christoph Hagel geweckt. Rock trifft Klassik: Plewka trat 2008 in Hagels viel beachteter Berliner-Fassung von "Zauberflöte in der U-Bahn" als Papageno auf.
Bereits mit neun gründete Plewka seine erste Band: "Ich war ein Kind, das sich ständig vor anderen produzieren musste." Weitere Combos folgten, dazu erste Auftritte als Schauspieler in TV- und Kinofilmen (etwa in der Anti-Atom-Farce "Bumerang-Bumerang", 1989).
Dämonen loswerden
In den 1990er Jahren gründete Plewka schließlich "Selig", jene fünfköpfige Musikanten-Truppe, die, parallel zum Aufstieg anderer Hamburger Bands wie "Blumfeld" und "Tocotronic", als deutsche Grunge-Gruppe in die Pophistorie einging: Mit "Ohne Dich" landeten sie etwa einen veritablen Hit und 1997 steuerte die Band die Filmmusik zum Kinohit "Knockin on Heavenss Door" bei; 1999 erfolgte die "Selig"-Auflösung, 2008 die Wiedervereinigung.
"Wir konnten uns nicht mehr ertragen", erinnert sich Plewka an die Zeit Ende der 90er Jahre, "wir haben in zu kurzer Zeit zu viel erlebt und gesehen - und sind wohl an einer Art Reizüberflutung zerbrochen." Damals zog sich der Bandgründer auch für ein Jahr in ein abgelegenes Haus in Schweden zurück: "Ich musste gleichsam die Dämonen loswerden, welche der RocknRoll-Gestus in mir angehäuft hatte."
Wieder zurück in Deutschland, mischte Jan Plewka zwar bei diversen musikalischen Projekten mit, konnte an den einstigen "Selig"-Erfolg aber nicht anknüpfen. "Wir sind nicht mehr so hitzköpfig wie damals", urteilt Plewka heute über das Comeback der Band. "Wir haben gelernt, die Macken des anderen zu akzeptieren; es ist wie in einer guten Ehe", sagt der Vater zweier Töchter. "Auf der Bühne erzeugen wir für uns nach wie vor geradezu rauschhafte Zustände."
An Elfriede Jelineks "Winterreise" fasziniert Plewka besonders, wie rhythmisch die Textpartituren angelegt seien, wie treffend die Autorin Zustände von Verzweiflung beschreibe. Jelinek bezieht sich in dem 2011 zum Stück des Jahres gekürten Text mehr oder weniger direkt auf ausgewählte Lieder aus dem Schubert-Zyklus und porträtiert eine Ich-Erzählerin, die mit Einsamkeit und Depressionen ringt. Darüber hinaus verarbeitet die Autorin in gewohnt souveräner Manier aktuelle Ereignisse, darunter die Affären rund um die Hypo Alpe Adria Bank und den Entführungsfall Natascha Kampusch; unverkennbar trägt das Jelinek-Werk durch die Figur eines demenzkranken Vaters autobiographische Züge.
Auf der Bühne des Akademietheaters werden die Jelinekschen Geschichtenanhäufungen von sechs Burgschauspielern verkörpert. Plewka schlüpft in die Rolle des Troubadours der gebrochenen Herzen, singt von "gefrorenen Tränen" - und überlässt wohl ausnahmsweise nichts dem Zufall.