Szene aus der Aufführung im Herbst letzten Jahres. - © Damira Jusupova/Bolschoi Theater
Szene aus der Aufführung im Herbst letzten Jahres. - © Damira Jusupova/Bolschoi Theater

Für eine Nationalmusik ist ein Komponist wie der Russe Michail Iwanowitsch Glinka natürlich ein Glücksfall. Er ist nicht nur der Erfinder der national-russischen Kunstmusik, er ist obendrein einer ihrer besten Komponisten. Da ist kein langsames Herantasten an die Nationalmusik notwendig wie in Ungarn mit den zahlreichen qualitativ bedenklichen Vorstufen, ehe Béla Bartók auf den Plan tritt, kein Versinken in Salonhaftigkeit wie in Spanien, wo erst Manuel de Falla die nationale Musik vom schlechten Geschmack säubert, dem der norwegische Nationalkomponist Edvard Grieg, ungeachtet seiner Stellung als nationales Kulturgut, immer wieder verfällt. Nein: In Russland erfindet Glinka die Nationalmusik, und seine Erfindung ist erstklassig. Fast ist es so, als wären die Brüder Wright nicht ein paar Meter mit einem Doppeldecker geflogen, sondern als hätten sie, sozusagen aus dem Stand, vielleicht keinen Airbus, aber zumindest eine Boeing 727 gebaut.

Doch, ja, es gab russische Komponisten vor Glinka, aber sie waren entweder Komponisten von Kirchenmusik oder im Grunde italienische Komponisten wie etwa Jewstignei Ipatowitsch Fomin, der im 18. Jahrhundert einen rein italienischen Stil komponierte. Und dann kommt eben Glinka.

Glinka russifiziert musikalische Bausteine

Zweifellos ist die russische Musik eine Spätentwicklerin. Immerhin ist Glinka, einer russischen Adelsfamilie entstammend, 1804 geboren und stirbt 1857, womit er ungefähr ein Zeitgenosse von Hector Berlioz, Giacomo Meyerbeer und Johann Strauß Vater ist, die alle auf langen musikalischen Traditionen ihrer Nationen aufbauen können. Glinka jedoch muss die Musik seiner Nation buchstäblich erfinden. Er eignet sich an, was Vincenzo Bellini, Gaetano Donizetti, Felix Mendelssohn Bartholdy an Musik komponieren, aber Glinka imitiert nicht sondern russifiziert die vorgefundenen Bausteine, indem er Praktiken der russischen Kirchenmusik auf sie überträgt. Dazu mischt er die Tonleitern der russischen Kirchen- und Volksmusik, die sich vom westlichen Dur und Moll oft deutlich unterscheiden.

Und er findet die Themen zu seinen beiden Opern "Ein Leben für den Zaren" und "Ruslan und Ludmila" in der russischen Geschichte und in den Sagen und Märchen seiner Nation. "Ruslan und Ludmila" ist eine verschachtelte, sagen- und märchenhafte Geschichte nach einer Verserzählung Alexander Puschkins - was irgendwie passend ist, denn wie Glinka die russische Musik erfindet, so erfindet Puschkin die russische Literatur. Die Musik von "Ruslan und Ludmila" zieht alle Register von der Bravour-Arie bis zum harmonisch geradezu tollkühnen Marsch für den bösen Zwerg Tschernomor - denn welcher Komponist sonst hätte 1842 eine Ganztontonleiter benützt? Eigentlich schreibt man deren Verwendung dem Franzosen Claude Debussy rund 50 Jahre später zu.

Für seine unmittelbaren Nachfolger als Komponisten einer betont russischen Musik, also etwa für Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow, sind Glinkas Opern prägende Modelle, die nur noch in Richtung einer noch stärkeren Russifizierung ausgearbeitet werden. In Russland freilich gilt Glinka bis heute als die Stimme der Nation.