Irkutsk. (dpa) Die Angst kommt für die Bewohner von Irkutsk in der Nacht. Sie wissen nicht, ob sie am nächsten Morgen von Sonnenstrahlen oder vom Geruch der Rauchschwaden geweckt werden. Die Stimmung in der sibirischen Stadt am Baikalsee ist angespannt. Die Brände in der Taiga wüten zwar hunderte Kilometer entfernt von der Stadt - doch könnten sie für Irkutsk lebensgefährlich sein.
"Heute ist es ein schöner Tag", sagt die Passantin Ljubow, während sie mit ihrem zehnjährigen Sohn am Ufer des mächtigen Flusses Angara entlangspaziert. "Doch noch vor wenigen Stunden fühlte ich mich wie in einem Horrorfilm: Der Himmel war dunkel, die Sonne konnte ich nicht erkennen." Seit der Wind die Rauchschwaden aus der Stadt getrieben hat, können die 35-jährige Mutter und ihr Kind wieder durchatmen. Doch sie bangt um ihre Verwandten im Norden des Baikalsees, die viel näher an der Gefahr sind. "Der Rauch kommt durch jede Ritze ins Haus. Sie können nicht mehr schlafen, weil er ihnen die Luft zum Atmen nimmt."
Eigentlich ist Irkutsk mit rund 600.000 Einwohnern ein idyllischer Ort, wo Bewohner wie Touristen Ruhe im leisen Rauschen der unendlich wirkenden Wälder und im klaren Wasser des Baikalsees suchen. Doch die gibt es hier schon seit Wochen nicht mehr: Die Region um den größten Süßwasserspeicher der Erde ist das Zentrum der verheerendsten Naturgewalten, die Russland seit Jahren erlebt.
Nur mit Atemschutz
Eine Fläche, die mehr als einem Drittel Österreichs entspricht, ist bereits abgebrannt - mehr als drei Millionen Hektar. Noch immer breitet sich das Feuer in den abgelegenen Gebieten der Taiga aus. Der Waldgürtel ist nicht nur Russlands grüne Lunge, sondern ist auch für das Weltklima extrem wichtig. Die genaue Brandursache ist noch nicht geklärt. Die Behörden ermitteln auch wegen Brandstiftung. Der gefährliche Rauch wird hunderte Kilometer weit in die Städte wie Irkutsk oder Krasnojarsk getragen. Ruß legt sich über die Seen, zu denen es die Kinder in den Sommerferien zieht. Viele Menschen gehen an manchen Tagen nur noch mit Atmenschutz aus dem Haus.
Eine Autostunde von Irkutsk entfernt können die Menschen den Qualm auch am Südufer des Baikalsees noch sehen, aber nicht riechen. Dicker Rauch hüllt die Schiffe ein. Reisende aus China machen Selfies vor den Rauchschwaden, als ob sie Sehenswürdigkeiten wären. "Jetzt lachen wir noch. Dreht der Wind wieder in die andere Richtung, stinkt es hier wie in einem Kohlelager", sagt der Russe Roman, als er die Touristen durch das Örtchen Listwjanka am Seeufer lotst. Insgesamt sind am Baikalsee hunderte Dörfer direkt von den Bränden betroffen. Die Straßen zu den Wohngebieten sind inzwischen gesperrt. Nur das Militär kommt mit speziellen Löschflugzeugen nah an die Waldbrände ran.
Doch es gibt noch eine andere Katastrophe in der Region: Bei einem Dammbruch und heftigen Überschwemmungen verloren tausende Menschen ihr Hab und Gut. Östlich von Irkutsk wurden hunderte Häuser von den Fluten mitgerissen. "Erst jetzt unternimmt der Staat etwas und ist auch sehr großzügig dabei", erzählt eine Freiwillige, die bei den Aufräumarbeiten hilft. "Aber vielleicht ist es zu spät."
Russische Umweltschützer warnen nämlich schon lange, dass die Infrastruktur in dem Riesenreich nicht ausreiche, um den globalen Klimawandel auszuhalten. Die Überschwemmungen und die Waldbrände seien eine Folge davon, sagt Greenpeace-Mitarbeiter Grigori Kuksin der "Nowaja Gaseta".
Es fehlt an allem
Der Physiker Andrej Borodin, der an der Universität Ulan-Ude am östlichen Ufer des Baikalsees arbeitet, hat daher vor vier Jahren mit Freunden und Kollegen eine Freiwilligenbrigade gegründet. Wenn die Behörden nicht oder zu langsam handeln, löschen sie gemeinsam mit Greenpeace in Eigeninitiative hochgefährliche Torf- und Waldbrände. Weil die Brandlage in diesem Jahr aber katastrophale Ausmaße angenommen habe, könnten die Freiwilligen nicht arbeiten. "Auf die örtlichen Behörden ist kein Verlass. Nicht, weil sie unfähig, sondern überfordert sind", sagt Borodin. Die Feuerwehr in der Region sei eindeutig unterfinanziert. "Es fehlen die Mittel für alles: Löschgeräte, Wasser und auch für Einsatzkräfte."
Die Umweltschützer hoffen deshalb auf Regen. Auf der Insel Olchon im Baikalsee gehen die Schamanen der Region deshalb in Stellung: An dem mystischen und ihnen heiligem Ort bitten sie höhere Mächte um Hilfe für die brennende Taiga.