Schreie, flüchtende Menschen und leblose Körper am Boden – die Szenen, die sich am Mittwochabend in der Innenstadt der norwegischen Stadt Kongsberg abspielten, erschüttern das Bild vom beschaulichen Norwegen, das nicht nur im Ausland, sondern auch im eigenen Land vorherrscht. "Es ist unwirklich, dass wir so etwas erleben müssen", sagt die Bürgermeisterin Kari Anne Sand in einem Interview mit dem norwegischen Rundfunk. "Eine Tragödie, die tiefe Spuren hinterlässt."
Die Fahnen wehen auf halbmast, an vielen Stellen haben Menschen Blumen und Kerzen abgelegt. Wieder hat ein einzelner Täter die Menschen in Norwegen in Angst und Schrecken versetzt. Ein 37 Jahre alter Däne, der in Kongsberg lebt, wird beschuldigt, fünf Menschen getötet und zwei verletzt zu haben. Nach Angaben der Polizei ging er mit Pfeil und Bogen und anderen Waffen in der Innenstadt umher. In einem Supermarkt traf der Schütze auf einen Polizisten, der aber nicht im Dienst war. Dieser überlebte den Angriff. Vier Frauen und ein Mann nicht. Der Sicherheitsdienst der Polizei bewertet die Tat als eine Terrorhandlung. Doch sein konkretes Motiv ist unklar.
Eine Frau sah den mutmaßlichen Täter von ihrer Terrasse aus: mit einem Bogen in der Hand und Pfeilen im Köcher. Andere Augenzeugen berichten dem Fernsehsender TV2 von leblosen Personen und Schreien auf der Straße. Nachbarn sehen einen Mann mit einem Pfeil im Rücken, der auf den Marktplatz läuft und anderen zuruft, sich in Sicherheit zu bringen. Rund eine halbe Stunde nach dem ersten Notruf wird der mutmaßliche Täter festgenommen. Die Polizei ist ziemlich sicher, dass er allein gehandelt hat.
Erinnerungen an Utøya
Diese Szenen rufen unwillkürlich Erinnerungen an das Massaker von Utøya wach. Im heurigen Sommer war es zehn Jahre her, dass der rechtsextreme Terrorist Anders Behring Breivik im Regierungsviertel von Oslo eine Bombe zündete und anschließend auf der Insel Utøya Jugendliche, die am Zeltlager einer sozialdemokratischen Organisation teilnahmen, regelrecht hinrichtete. 77 Menschen verloren ihr Leben.
2019 fand er einen Nachahmer. Ein junger Norweger stürmte eine Moschee in Bærum bei Oslo. Sein Ziel war es, so viele Muslime wie möglich zu töten, doch er konnte überwältigt werden. Später stellte sich heraus, dass er zuvor seine Halbschwester getötet hatte.
Beide Täter waren politisch motiviert. Auch in diesem jüngsten Fall meint der Sicherheitsdienst PST: "Die Vorfälle in Kongsberg erscheinen derzeit als terroristischer Akt". Der mutmaßliche Täter war der Polizei mehrfach gemeldet worden, weil er zum Islam übergetreten und radikalisiert worden sein sollte. Zweimal wurde der Däne bereits verurteilt: wegen Diebstahls, Drogenmissbrauchs und weil er Familienmitgliedern gedroht hatte, sie umzubringen. Was ihn veranlasst haben soll, am Mittwoch so viele Menschen zu töten, müssen nun die Ermittler herausfinden.
Druck auf Polizei groß
Auf ihre Arbeit wird besonders geschaut. Denn bei den Angriffen vom 22. Juli 2011 hatte die Polizei kläglich versagt. Die Operationszentrale war nur mit einer Person besetzt, es fehlte an Hubschraubern, Booten und an Führungskompetenz. Seitdem ist viel passiert, die Polizei ist von Grund auf reformiert worden und scheint nun besser auf solche Situationen vorbereitet zu sein.
Nur fünf Minuten nach dem ersten Alarm war die erste Patrouille vor Ort. Es folgte der Bereitschaftstrupp, Helikopter und die Bombengruppe. Krankenhäuser wurden alarmiert, die Gemeinde und das Justizministerium richteten Krisenteams ein. Das alles scheint gut funktioniert zu haben. Doch es nicht sicher, dass beim Polizeieinsatz alles nach Plan gelaufen ist.
Der regionale Polizeichef Ole Bredrup Sæverud musste am Donnerstag einräumen, dass es wahrscheinlich ist, dass die Opfer getötet wurden, nachdem die Polizei dem mutmaßlichen Täter zum ersten Mal begegnete. Die Beamten waren von ihm mit Pfeilen beschossen worden und gaben selbst Warnschüsse ab. Der Mann konnte aber entkommen und wurde erst rund eine halbe Stunde später festgenommen. Ob die Beamten, die als erstes eintrafen, die Todesfälle hätten verhindern können, wird sicherlich in den nächsten Tagen diskutiert werden. (dpa)