Bereits in der vergangenen Woche organisierte Serhij Lukaschow Evakuierungstransporte aus dem von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil des ostukrainischen Oblasts Luhansk. Den anderen Teil besetzen prorussische Separatisten. Sie haben eine "Volksrepublik" ausgerufen, die Russland zu Wochenbeginn anerkannte - was zur Eskalation der Lage geführt hat.

"Wiener Zeitung": Wie ist die Situation in der Ostukraine?

Serhii Lukashov: Die Lage ist katastrophal und wird von Stunde zu Stunde noch schlechter. Wir helfen Kindern auf beiden Seiten der Front, der sogenannten Kontaktlinie. Dort herrscht seit acht Jahren Krieg. Seitdem kam es immer wieder zu größeren Gefechten und kleineren Scharmützeln. Aber seit ein paar Tagen hat der Beschuss stark zugenommen. Die Kontaktlinie brennt! Die von der Regierung kontrollierten Gebiete liegen unter schwerem Artillerie-Beschuss. Der von prorussischen Kräften beschossene Kindergarten in Stanyzja Luhanska liegt nur ein paar hundert Meter von unserem Büro entfernt.

Konnten Sie bisher auf beiden Seiten ungehindert arbeiten?

In den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten hatten wir kaum Probleme. Auf der anderen Seite der Kontaktlinie sind wir teilweise auf großes Misstrauen gestoßen. Uns wurde unterstellt, wir seien Agenten der Ukraine oder des Westens. Aber das ist absoluter Unsinn. Wir arbeiten streng nach den humanitären Prinzipien Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Wir wollen nur den Kindern helfen und unterstützen ihre Eltern oder Pflegeeltern. Egal, auf welcher Seite sie leben.

Kann SOS-Kinderdorf trotz des Krieges weiterhin in den umkämpften Gebieten arbeiten?

Wir unterstützen derzeit 500 bis 600 Kinder in von der Ukraine kontrollierten Gebieten und 300 bis 400 Kinder in Gebieten, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Seit Beginn des Konfliktes haben wir bisher fast 80.000 Kinder, die in ihren Familien oder bei Pflegefamilien leben, unter anderem mit psychosozialer, materieller und pädagogischer Hilfe unterstützt. Unsere Mitarbeiter haben dazu am Checkpoint oft die Kontaktlinie überquert. Aber mittlerweile liegt auch dieser Checkpoint unter Beschuss.

Wie begegnet SOS-Kinderdorf dieser Situation?

Wir versuchen, so viele Mädchen und Buben wie möglich mit ihren Familien und Pflegefamilien zu evakuieren, in bisher noch sichere Gebiete im Westen der Ukraine.

Wie läuft die Evakuierungsaktion konkret ab?

Wir haben für die Kinder und ihre Pflegeltern Zugtickets gekauft. Die Familien haben in großer Eile das Nötigste - vor allem Kleidung, Pässe und Handys - zusammengepackt und haben mit der Unterstützung unserer Mitarbeiter die rund 20-stündige Reise in den Westen der Ukraine angetreten. 109 SOS-Kinder und ihre Familien haben wir schon rausbringen können. Aber in dem Oblast Luhansk leben noch rund 1.700 Kinder in staatlichen Einrichtungen oder Pflegefamilien. Der Staat hat uns gebeten, bei der Evakuierung dieser Kinder zu helfen.

Wollen alle Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlassen?

Nein. Viele haben sich in den vergangenen Jahren an den Krieg gewöhnt und sind völlig abgestumpft. Viele Kinder kennen nur Krieg. Die Menschen an der Kontaktlinie glauben oder hoffen, dass es auch dieses Mal nicht so schlimm kommen wird. Aber der politische Kontext hat sich in den vergangenen Tagen dramatisch verschlechtert. Trotzdem wollen viele Personen ihre Heimat nicht verlassen, weil sie Angst haben, dass ihre Wohnungen und Häuser geplündert oder besetzt werden könnten.

Hilft SOS-Kinderdorf auch den Menschen, die trotz des Krieges bleiben wollen?

Wir versuchen, sie zu überzeugen, mit unserer Hilfe zumindest zeitweise in sichere Gebiete umzusiedeln. Sollten sie dennoch bleiben wollen, versuchen wir sie dabei zu unterstützen, Lebensmittel- und Wasservorräte anzulegen und sich damit vertraut zu machen, wo der nächste Luftschutzkeller ist. Und wir klären Kinder über die Gefahr von Minen auf. Die Ostukraine gehört mittlerweile zu den am stärksten verminten Gebieten der Welt. Vor allem für arglose Kinder sind die Minen eine riesige Gefahr.

Was passiert mit den SOS-Kindern, die in den Westen der Ukraine fliehen?

Zunächst bringen wir sie mit ihren Familien in derzeit nicht ausgelasteten Reha-Kliniken unter. Sollte die Krise weiter eskalieren und Hunderttausende aus dem Osten des Landes fliehen, werden die Menschen auch in Sammelunterkünften wie Schullandheimen oder Hotels untergebracht werden müssen. Aber das kann nur eine temporäre Lösung sein. Wir müssen eine Gettoisierung der Geflüchteten unbedingt verhindern. Vor allem für die vom Krieg traumatisierten Kinder ist es sehr wichtig, dass sie mit ihren Familien in richtigen Wohnungen und endlich in sicheren und stabilen Verhältnissen leben können.

Was haben acht Jahre Krieg mit den Kindern gemacht?

Der Krieg hat die Kinder schwer traumatisiert. Viele spielen nicht mehr und haben sich emotional verschlossen. Manche sprechen nicht mehr, andere leiden unter Panikattacken oder schweren Depressionen.

Wie kann SOS-Kinderdorf den jüngsten Opfern des Krieges helfen?

Mit Musik-, Mal-, und Spieltherapie, psychotherapeutischen Angeboten und der Unterstützung von Familien versuchen wir, dass Kinder wieder Kinder werden können. Aber das funktioniert nicht von heute auf morgen. Es dauert und kostet viel Geld. Und mit jedem weiteren Tag Krieg wird diese Aufgabe größer und schwerer lösbar. Aber wir geben nicht auf.