Als der Krieg nach Irpin kam, war das Viertel zwischen der Poltavska- und Severynivska-Straße eine jener Gegenden, die besonders in Mitleidenschaft gezogen wurden. Artilleriegranaten flogen von beiden Seiten über die Dächer der Häuser des Viertels, die Granaten der russischen Artillerie kamen von Norden, die Ukrainer schossen aus Richtung Süden zurück. Nun, fast ein Jahr danach, führt Kryshenko Kyrylo, ein Mitarbeiter der Volkshilfe Österreich und von Nachbar in Not, durch die Straßen. Hinter einem der Häuser steht noch das Wrack eines völlig ausgebrannten Autos, Dach und Fassade des Gebäudes hinter dem Parkplatz sind schwer beschädigt, die Fenster sind geborsten, einige Wohnungen sind ausgebrannt, Teile des Gebäudes sind eingestürzt.

Der Apartmentblock gegenüber ist renoviert, neue Fenster, die Fassade saniert, nur da und dort sieht man noch die Schrapnell-Spuren der Kämpfe im Februar und März 2022.

Von der sanierten Fassade hängt ein Plakat mit den Logos der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Narodna Dopomoha, der österreichischen Hilfsorganisationen Volkshilfe, Nachbar in Not und der deutschen Arbeiterwohlfahrt und Aktion Deutschland hilft. Die Hilfsgelder dieser Organisationen haben die Sanierung dieses Wohnblocks ermöglicht. "Wir haben geschafft, dass die Menschen in ihren eigenen Wohnungen über den Winter kommen konnten", sagt Kyrylo. Wobei die Hilfsorganisationen nur den bedürftigsten zur Seite stehen können, alleinerziehenden Müttern, sozial benachteiligten Menschen und Pensionisten. Wer etwas mehr Geld hat, muss sich selbst helfen - wie einer der Nachbarn, der mit seinem Kombi-Fahrzeug gerade Baumaterial vom Epicentr-Baumarkt geholt hat, neue Fenster lädt er ebenfalls aus seinem Pkw. Oder jene, die gerade das Dach eines Gebäudes sanieren.

Von der Tochter zur Flucht gedrängt

Ein wenig weiter nördlich, in der Kotlyarevskoho Vuliytsa, winkt schon eine Seniorin aus dem Fenster im dritten Stock der Siedlung SMU. Die Siedlung ist nach einer Ziegelfabrik benannt, deren Arbeiter zu Nikita Chruschtschows Zeiten in den 1960er Jahren hier untergebracht wurden.

Es ist Frau Kataryna, die Herrn Kyrylo zuwinkt. Ende Juli 2022 ist sie ihm auf der Straße begegnet, als Kyrylo damals durch das Viertel gelaufen ist und allen erzählt hat, dass er vielleicht bei der Sanierung der zerborstenen Fensterscheiben helfen könne. Frau Kataryna dachte zuerst, dass da irgendein Betrug dahinterstecken müsse, denn warum sollte ausgerechnet ihr jemand bei ihrer Wohnungssanierung helfen? Doch am Ende vertraute sie ihm. Frau Kataryna, die seit dem Jahr 2003 Witwe ist, müsse von weniger als 100 Euro Pension und 250 Euro monatlich, die sie als Hilfskraft im Kindergarten bekommt, leben, erzählt Kryshenko Kyrylo. Damit sei sie eine derjenigen gewesen, die die Kriterien erfüllt, um Hilfe zu bekommen.

NGO-Mitarbeiter Kryshenko Kyrylo zeigt die Kriegsschäden im Viertel. 
- © Thomas Seifert

NGO-Mitarbeiter Kryshenko Kyrylo zeigt die Kriegsschäden im Viertel.

- © Thomas Seifert

Scherben gab es genug, im gesamten Apartmentblock waren alle Glasscheiben durch die Druckwelle der Granatenexplosionen kaputt gegangen, erzählt Kyrylo. Denn dieses Viertel sei durch die Kämpfe arg in Mitleidenschaft gezogen worden, nur eine Straße weiter sei eine ganze Familie bei einem Granateneinschlag ums Leben gekommen - die Rußspuren an der Fassade zeugen von der ausgebrannten Wohnung. "Vier Tote", sagt Kyrylo.

Doch zu diesem Zeitpunkt war Frau Kataryna nicht mehr in ihrer Wohnung.

Ihre Tochter hat sie gedrängt, aus Irpin zu flüchten. "Mutti, komm, wir fahren", hat ihre Tochter damals zu ihr gesagt, "wir fahren weg, in drei Tagen sind wir wieder da." Drei Tage. Am Montag müsse sie ja wieder zur Arbeit, habe ihre Tochter damals nur gemeint. "Da werde dann alles wieder alles in Ordnung sein, hat meine Tochter gesagt", erzählt Frau Kataryna. Also hat ihre Tochter sie und ihren Kater Bublik ins Auto gepackt und sie sind mit in das 25 Kilometer entfernte Dorf Abramovkar geflohen. Mittlerweile stehen Teller auf dem kleinen Esstisch, darauf liegen mit Faschiertem und Ei gefüllte Palatschinken, mehr, als auch ein hungriger Mensch essen kann. Warum sind die, die wenig haben, oft am großzügigsten?

"Ich kann nicht sagen, dass ich alle Russen hasse"

Auf der Straße seien schon die Militärkolonnen gewesen, überall Russen. In Abramovkar waren sie auch schon. In der Datscha - einem Sommerhäuschen - gab es keine Heizung, aus Blech haben sie dann notdürftig einen kleinen Herd gebastelt, auf dem die Familie - mittlerweile waren insgesamt sieben Menschen in der Datscha - kochen und sich ein wenig wärmen konnten. Schließlich vereinbarten die Ukraine und Russland einen sogenannten "grüner Korridor", durch den die Menschen flüchten konnten.

Bis Mai blieb die Familie in Tscherkassy, dann kam ein Anruf, ob sie nicht zurückkommen und wieder im Kindergarten aushelfen könnte. Also sei sie am 12. Mai wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt.

Wie denkt sie jetzt, fast ein Jahr danach, über den Krieg? "Es war ein echter Schock für mich. Ich konnte nicht glauben, dass Russland so etwas machen würde. Schwer zu sagen, welche Gefühle ich damals gehabt habe, das waren Gefühle, die ich davor noch nie hatte. Ich habe einfach fest daran geglaubt, dass Gott uns beistehen wird", sagt sie. Dass Frau Kataryna tief gläubig ist, sieht man an einem ganzen Schrank voll Ikonen, die den prominentesten Platz in ihrem kleinen Wohnzimmer einnehmen.

Ob sie oft über den Krieg nachdenkt? "Oh ja", sagt sie, "ich habe schon die Hoffnung auf eine Lösung, auf Frieden. Ich kann auch nicht sagen, dass ich alle Russen hasse. Es kann ja nicht sein, dass alle Russen solche Idioten sind, oder?"

Froh über die einfachen Dinge

Bei der Antwort auf die Frage, was sich in diesem Jahr des Krieges für sie verändert hat, denkt sie ein wenig nach, setzt kurz an: "Früher dachte ich immer, dies ist wichtig oder das. Ich habe gegrübelt: Was wird werden?" Dann fährt sie fort: "Jetzt, im Krieg, schätze ich jeden Tag meines Lebens und ich bin froh über die einfachen Dinge. Jeden Abend bete ich, dass unsere jungen Leute heil aus diesem Krieg heimkommen und dass niemand mehr sterben muss."

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Sie hat viel verloren in diesem Jahr Krieg, erzählt Frau Kataryna. "Das ist alles, was von meinem Elternhaus geblieben ist", sagt sie und zeigt auf zwei Pappschachteln, die unter einem kleinen Tisch in einer Ecke der Wohnung stehen. Sie kramt ein paar Bilder hervor, die die Zerstörung des Hauses zeigen. Das Haus ist ganz in der Nähe, vielleicht einen halben Kilometer entfernt, jetzt ist es nur mehr eine Ruine, sagt sie. Auf den Bildern sieht man: Das Haus ist komplett zerstört. Auch einen alten Moskwitsch, ein Kleinwagen sowjetischer Bauart, sei bei dem Beschuss ausgebrannt, sagt Frau Kataryna.

"Wichtig ist, dass alle in der Familie am Leben sind. Ein Dach über dem Kopf, Essen, Futter für die Katze - viel mehr braucht man nicht zum Leben", sagt Frau Kataryna.

Mitarbeit: Alex Babenko