An manche Orte kehrt man gerne zurück - trotz allem. Die Schule Nummer 3 in Butscha, 25 Kilometer nordöstlich von Kiew, ist so ein Ort. Denn hier gibt es wieder Hoffnung. An einem Ort, wo einst Verzweiflung herrschte, gibt es wieder Leben; wo es einst schaurig und menschenleer war, tummeln sich junge Menschen, wo Totenstille herrschte, es ist wieder laut und quirlig.

Butscha ist durch ein Massaker, das russische Truppen im März 2022 hier angerichtet haben, bekannt geworden. Nach dem Abzug der russischen Soldaten wurden in der 35.000-Einwohner-Stadt 458 Leichen gefunden, bei 419 muss man davon ausgehen, dass sie gefoltert, erschossen oder erschlagen worden sind. Fast alle Toten waren Zivilisten.

Auch Schule Nummer 3 wurde bei den Kämpfen zwischen russischen Truppen und den ukrainischen Verteidigern arg in Mitleidenschaft gezogen. Heute ist ein Teil der Schule bereits renoviert, das Dach ist saniert, neue Fenster, neue Möbel, neuer Anstrich. An einem anderen Teil der Schule wird noch gearbeitet. Die ukrainische Hilfsorganisation Narodna Dopomoha arbeitet gemeinsam mit Nachbar in Not und der Volkshilfe an dem Projekt - hier wurde ein ganz kleiner Teil der 124 Millionen Euro, mit denen Österreich die Ukraine seit Kriegsbeginn unterstützt, investiert.

Die Schülerinnen und Schüler sind zurück in ihrer Schule, eine Woche sind die fünften bis siebten Klassen in der Schule und die achten bis elften Klassen im Homeschooling, die Woche darauf ist es umgekehrt.

Die Hymne vor Van der Bellen gesungen

Anfang Februar war der österreichische Präsident Alexander Van der Bellen in der Schule Nummer 3 zu Besuch. Unter anderem in der Klasse von Olya Mahotenko. Die Leidenschaft der 33-jährigen Lehrerin mit dem rotblonden Lockenhaarschnitt, der ihr lebendiges, rühriges Wesen unterstreicht, war schon bei dem kurzen Besuch spürbar.

Lehrerin Olya Mahotenko erzählte Bundespräsident Van der Bellen von Sophias Gesangskünsten. - © T. Seifert
Lehrerin Olya Mahotenko erzählte Bundespräsident Van der Bellen von Sophias Gesangskünsten. - © T. Seifert

Mahotenko hat dem Bundespräsidenten voller Stolz ihre Schülerin Sophia vorgestellt, deren Gesangskünste gepriesen und betont, dass Sophia schon mehrere Preise bei Musikwettbewerben gewonnen hat. "Sing doch für uns", forderte die Lehrerin Sophia auf. Die Zwölfjährige hat dem Drängen schließlich nachgegeben und die ukrainische Nationalhymne "Schtsche ne wmerla Ukrajina - noch ist die Ukraine nicht gestorben" angestimmt.

Jetzt, zwei Wochen später, sitzt Sophia gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen im Luftschutzkeller der Schule. Wieder einmal. Für Kiew wurde Luftalarm ausgelöst, das bedeutet für die Klassen: zusammenpacken und alle in den Bunker. Doch die Schülerinnen und Schüler haben im Vergleich zu manchen ihrer Gleichaltrigen in anderen Schulen Glück: Die Keller sind modern und geräumig, der Unterricht kann hier auch bei Luftalarm halbwegs "normal" fortgesetzt werden. Aber was ist schon "normal" in diesem Krieg?

Sophia war vergangenes Jahr das erste Mal in ihrem Leben in Österreich. Unfreiwillig. Das kam so: "Es ist Krieg." Mit diesen Worten hat ihre Mutter sie vor nunmehr fast genau einem Jahr aus dem Schlaf gerissen, Sophia, ihre Mutter und ihr Bruder haben hektisch ihre Sachen gepackt und ihr Vater hat sie mit dem Auto zur ukrainisch-polnischen Grenze gefahren. "Ich hatte große Angst. Werde ich jemals wieder hierher zurückkehren? Ich wusste ja nicht, was Krieg heißt, außer aus Filmen oder aus dem Fernsehen. Außerdem musste ja Papa in der Ukraine bleiben mit meinen beiden Katzen Rossy und Susi." Die Katzen seien ein wichtiger Grund dafür gewesen, dass Sophia wieder zurück nach Hause wollte. Und natürlich Papa. Und ihre Freundinnen. "In der ersten Woche war ich bei jedem Luftalarm nervös. Aber man gewöhnt sich daran. Das wird irgendwann normal, das Leben geht weiter und dann beruhigt man sich."

Sophia erzählt das mit heller, lebendiger Stimme, ihre blonden Haare reichen bis zum Oberarm, wenn sie nervös ist, kann sie ihre Hände nicht ruhig halten, und jetzt gerade ist sie nervös. Denn die Erinnerung an ihre Flucht nach Polen, dann weiter nach Österreich, an ihre neue Schule in Linz und daran, dass sie kein Wort verstanden hat, versetzt sie in Unruhe. Die Menschen in Österreich waren sehr hilfsbereit, haben der Familie Obdach gegeben und ihr und ihrem Bruder geholfen, einen Schulplatz zu finden. "In unserer internationalen Klasse haben sie auf Deutsch unterrichtet - das war dann manchmal komisch. Aber die Lehrerinnen und Lehrer haben auf Englisch ausgeholfen, wenn wir mal gar nichts verstanden haben", erzählt Sophia.

Im August sind sie nach Butscha zurückgekehrt, aus der Wohnung haben die Russen einige Sachen geplündert, Computerzubehör, Wertsachen. "Ich bin wütend auf Russland. Was haben wir ihnen getan?"

Für Sophia war das Jahr 2022 ihr längstes Jahr. "Ich habe mich schon sehr verändert", sagt sie. "Ich habe so viel erlebt. Ich wünsche mir so sehr, dass wir wieder glücklich sein können, dass alles besser wird. Dass der Krieg aufhört." Und plötzlich scheint es für einen kurzen Moment, als spreche da eine Erwachsene. Doch dann: "Ach ja, ganz wichtig: Über den Sommer hat Susi Junge bekommen: Barney und Somnea."

Mittlerweile wurde Entwarnung gegeben, die Klassen pilgern aus dem Luftschutzkeller nach oben. Ira, zwölf Jahre, stand beim Besuch des Bundespräsidenten direkt neben Alexander Van der Bellen, zweimal hat sie angesetzt, um sich bei ihm für die Hilfe aus Österreich zu bedanken, doch sie wurde jedes Mal unterbrochen, von offiziellen Wortmeldungen oder von Fotografen, die ein Gruppenfoto wollten.

Ira sitzt aufgerichtet hinter der Schulbank, dunkelblauer Rollkragenpulli, darüber ein cremefarbener Pulli mit kurzen Ärmeln. Keine Frage: Ira hat Stil, eines Tages möchte sie Künstlerin werden. Doch der Angriff Russlands hat sie aus der Bahn geworfen und ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. "Die Explosionen waren extrem laut", sagt sie. "Wir gingen in den Keller, da waren auch schon unsere Nachbarn, nach zwei Tagen sind wir zum Haus meiner Großmutter in Richtung der Grenze zu Moldawien gefahren." Schön sei es dort gewesen und vergleichsweise sicher, aber sie habe sich seit Tag eins darauf gefreut, wieder nach Butscha zurückkehren zu können. Doch noch sind viele nicht nach Butscha zurückgekehrt.

Ira hat ihren Ohrschmuck in den ukrainischen Nationalfarben angefertigt. - © T. Seifert
Ira hat ihren Ohrschmuck in den ukrainischen Nationalfarben angefertigt. - © T. Seifert

Iras Angst um den Vater

Ira ist ein Gefühlsmensch, in ihrer Stimme klingt Traurigkeit, aber auch Ernsthaftigkeit durch. Ira spricht von der Angst um ihren Vater, der Soldat ist und immer wieder an gefährlichen Kriegsschauplätzen wie Bachmut Dienst tut, und von der Verlorenheit, die sie und ihre achtjährige Schwester verspürt hatten, als die Familie auf der Flucht vor dem Krieg war. "Wenn ich nicht weiterweiß, dann zeichne ich, male oder arbeite an meinen Perlen-Schmuckstücken", sagt Ira. Sie öffnet eine Schachtel, die sie mitgebracht hat, und legt ein Rocailles-Perlen-Schmuckstück nach dem anderen vor sich auf den Tisch: ein herzförmiger Ohrring, ein Ring, ein Anhänger in der Form des Kartenumrisses der Ukraine. Alles in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb.

Mitarbeit: Alex Babenko

Ira bastelt Schmuckstücke aus Rocailles-Perlen. 
- © Thomas Seifert

Ira bastelt Schmuckstücke aus Rocailles-Perlen.

- © Thomas Seifert