Der Innenhof des zweistöckigen Wohnhauses, neben Klettergerüst und Ringelspiel: ein schlichtes Holzkreuz. Andrij Petrow, gestorben 01.12.2022. Das Behelfsgrab für Petrow, der bei einem Artillerieangriff in seiner Wohnung starb, wurde dort angelegt, wo früher Kinder spielten.

Früher, vor dem Krieg.

Klettergerüst und Ringelspiel stehen noch, aber ein Teil der überschneiten Spielplatzausstattung wurde bei Granateneinschlägen zerfetzt, die Bäume wurden durch die Druckwellen zerzaust, nicht weit von Herrn Petrows Grab steht ein ausgebranntes Auto, der Park ist von Trümmerteilen übersät. Um das Grün fünfstöckige Ziegelmietskasernen, die Balkonwintergärten sind zerstört, unzählige Wohnungen ausgebrannt. Die Kästen der Klimaanlagen baumeln an der Hausmauer, an der Fassade Spuren, die die Granatsplitter an den Mauern hinterlassen haben. Hätten Filmleute den Auftrag bekommen, ein Set für einen Endzeit-Hollywood-Kriegsfilm zu schaffen, dann wäre wohl ein Szenenbild wie hier in diesem Hof herausgekommen. Das Grab im Kinderspielplatz - eine Allegorie von Leben und Tod, umrankt von einer postapokalyptischen Szenerie eines brutalen und grausamen Krieges.

Kohle im Wappen

Willkommen in Wuhledar. Das Wappen der einst stolzen 15.000-Einwohner-Bergbau-Stadt in der Ostukraine ziert eine Pyramide aus pechschwarzer Kohle, hinter der die Sonne aufgeht. Unter der Pyramide aus Kohle eine sehnige Hand, die einen Metallkeil umklammert. Über dem Wappen das Stadt-Motto: "Misto nashykh nadiy - Stadt unserer Hoffnungen".

Heute gilt: Wer hier eintritt, lasse alle Hoffnung fahren.

Die Stadt war seit Beginn des Krieges - wie viele Städte im Donbas - heiß umkämpft, es gibt längst keinen Strom und kein Wasser mehr, die Lebensmittelgeschäfte sind leer, die öffentliche Verwaltung hat ihre Dienste in Wuhledar eingestellt.

In der Stadt der Minenarbeiter ist Kriegserfahrung lebensrettend: Schießt die ukrainische Artillerie, dann hört man einen lauten Knall, geht eine russische Granate in Wuhledar nieder, dann tut sie das mit einem dumpfen Wumms, manchmal hört man vorher ein sirrendes Pfeifen. Je lauter das Pfeifen, desto näher saust die Granate vorbei. Dann gibt es noch diese Explosionsserien: weniger dumpf, dafür mehrere Einschläge kurz hintereinander. Die stammen von Mehrfachraketenwerfern, des Typs Grad - eine gefürchtete Waffe, denn "Grad" heißt Hagel, es wird meist ein größeres Gebiet zerstört als mit Artillerie. Maschinengewehrfeuer macht einen zwar nervös, ist aber weniger schlimm, denn es stammt von den ukrainischen Verteidigern der Stadt, die aus der Stadt heraus und nicht in sie hineinschießen. Wenn sie ihre kurzen Feuerstöße abfeuern - taktaktak, taktaktak, taktaktak -, dann bedeutet das, dass irgendwo ein ukrainischer MG-Schütze sein Feuer auf russische Soldaten hält. Die Reichweite dieser Maschinengewehre liegt bei maximal 1.200 Metern. Weit weg können die Stellungen der russischen Infanterie nicht sein.

"Andrij Petrow, gestorben 01.12.2022", steht auf dem Holzkreuz. Einst spielten hier Kinder. 
- © Thomas Seifert

"Andrij Petrow, gestorben 01.12.2022", steht auf dem Holzkreuz. Einst spielten hier Kinder.

- © Thomas Seifert

Gleich hinter dem Grab von Herrn Petrow ist der Eingang zum Schutzkeller von Jelena und Oleksandr. Jelena ist Anfang 50 und hat vor dem Krieg Hautpflegeprodukte eines schwedischen Kosmetikkonzerns verkauft. Sie ist blond, ihr Lächeln und ihre Fröhlichkeit mögen so gar nicht an diesen Ort des Schreckens passen. Jelena trägt eine rote Notarztjacke mit weißen Reflektorstreifen, auf der Jacke steht: "Extrena Medychna Dopomoha" - "Notfallmedizinische Hilfe". Sie ist zwar nicht Notärztin, aber die Jacke wärmt gut, sagt Jelena. Und seit die Stadtverwaltung abgezogen ist, müssen sich die Bewohner selbst um die ärztliche Versorgung oder das Löschen von Feuern kümmern. Die kommunalen Dienste werden jetzt vom Kollektiv der Dagebliebenen erledigt.

Jelenas Granatensplitter

Vor dem Krieg war Jelenas Leben komfortabel, sagt sie, sie hat warme Erinnerungen an Wien und Budapest, wohin sie gerne gereist ist. Doch dann zog am 24. Februar 2022 der Krieg übers Land und sie übersiedelte vom vierten Stock in den Keller des Hauses. "Im ersten Monat war es am schwierigsten, denn niemand von uns wusste, wie man im Krieg überleben soll. Jetzt ist es leichter, weil wir uns daran gewöhnt haben", sagt sie. Aber kann man sich wirklich an ständige Todesgefahr gewöhnen? Jelena führt ihren Zeigefinger an eine drei Zentimeter lange, gut verheilte und kaum mehr sichtbare Narbe etwas unterhalb des rechten Wangenknochens. "Granatensplitter", sagt Jelena. Was sie nicht dazusagt: Ein paar Zentimeter, und der Granatsplitter hätte in ihren Kopf eindringen und sie töten können. "Ich lebe noch", sagt sie, "aber der Krieg geht weiter und seit einiger Zeit wird der Beschuss immer schlimmer."

Man hört es: In Wuhledar kracht es ohne Pause.

Jelena zeigt der "Wiener Zeitung" die Verwüstungen an ihrem Haus in Wuhledar. 
- © Alex Babenko

Jelena zeigt der "Wiener Zeitung" die Verwüstungen an ihrem Haus in Wuhledar.

- © Alex Babenko

Jelenas Aussagen decken sich mit dem Bild, das sich Militäranalysten von der Lage rund um die Stadt machen: Die russische 155. Marinebrigade versucht seit Monaten, die Stadt zu erobern, aber bisher ist es den Verteidigern - der 72. Mechanisierten Brigade - gelungen, die Stadt zu halten. Die Hochhäuser ragen "wie eine Festung aus der flachen Landschaft", wie es der österreichische Militäranalyst Tom Cooper beschrieben hat. Diese Festung soll nun von russischer Artillerie sturmreif geschossen werden.

Wuhledar wurde 1964 als Minenstadt gebaut, unter der Erde sind die gewaltigen Kohlevorkommen des Donezk-Beckens. Doch nicht nur die Kohlevorkommen machen Wuhledar zu einem wichtigen Ziel für die russische Armee, Wuhledar ist für die Militäroperationen in der Region entscheidend. Gelänge es den russischen Soldaten, Wuhledar einzunehmen, dann würde es für die Ukrainer schwieriger, die Bahnlinie, die das russische besetzte Donezk mit der russisch besetzten Krim verbindet, zu unterbrechen. Und Wuhledar wäre dann eine wichtige Etappe der nördlichen Flanke einer möglichen russischen Frühlingsoffensive. Bis zu 20.000 Soldaten soll die Armeeführung in Moskau für die Schlacht um Wuhledar abkommandiert haben, rund 90 Panzer, 150 Schützenpanzer und um die 100 Artilleriekanonen.

Wie in einem Videospiel

Bisher konnten die Ukrainer die Attacken aber jedes Mal zurückwerfen, die ukrainische Artillerie und Panzerabwehr hat den russischen Truppen bisher noch bei jeder Angriffswelle schwere Verluste zugefügt. Moderne Kriegsführung in der Ukraine bedeutet, dass die Kommandeure beider Seiten sich mithilfe von Drohnen ständig ein Lagebild verschaffen können, aus der Vogelperspektive ist das Handwerk des Tötens nur eine Frage von kinetischen Operationen, taktischen Flankenmanövern, Hinterhaltsmissionen. Alles sieht ein wenig so aus wie in einem Videospiel. In Lemberg, Kiew oder Odessa gibt es Luftalarm, Bomben und Stromausfälle und das ist schlimm genug, doch was sich in den Frontstädten des Donbas, in Bachmut oder Wuhledar abspielt, ist kaum zu beschreiben.

Wieder ein dumpfer Knall, diesmal beängstigend nah. Oleksandr hat Schlimmeres erlebt. Viel Schlimmeres. Er kommentiert den Granateneinschlag mit den Worten: "Oh, Artilleriya rabotayet! - Die Artillerie arbeitet!" Es sei wohl besser, das Gespräch im Schutzkeller weiterzuführen, sagt er. Also geht es die Treppen des Hauses hinunter, in das Refugium, das sich Oleksandr und Jelena im Kellergeschoss geschaffen haben. Die beiden sind einander im Krieg nähergekommen und teilen sich Oleksandrs Keller. Im Keller hört man Gezwitscher - seine zwei Papageien leisten Oleksandr und Jelena Gesellschaft. Sie hüpfen im Käfig von einer Stange zur nächsten, Oleksandr könnte sie stundenlang beobachten. Ikonen von Maria und Jesus und dem heiligen Nikolaus, ein Bild, das eine idyllische Szene mit Beagle-Jagdhunden zeigt, eine Marionette hängt von der Wand, in der Ecke ein Herd, der zum Kochen genutzt wird und der Wärme spendet.

Jelena und Oleksandr sind einander im Krieg nähergekommen. 
- © Thomas Seifert

Jelena und Oleksandr sind einander im Krieg nähergekommen.

- © Thomas Seifert

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30 Jahre lang hat Oleksandr im Bergwerk im Schacht gearbeitet. Jetzt ist er eben wieder unter Tag, sagt der 57-Jährige. Die Erfahrung als Bergarbeiter hilft, das Leben im engen, dunklen Räumen hat ihn nie gestört. Doch das konstante Grummeln, Wummern und Knallen zehrt auch an seinen Nerven. Was helfe, sei Musik, sagt er, holt eine kleine Musikbox hervor und steckt einen USB-Stick an. "Take a Chance on me" von Abba. Oleksandr dreht lauter. "Rock, Pop, Jazz, Blues, Volksmusik, ich höre alles gerne", sagt er und fügt hinzu, dass die Musik ihn beruhige und ihn auf andere Gedanken bringe. Nur wenn die Granateneinschläge besonders nahe sind, dann spürt man die Druckwelle am ganzen Körper, dann hilft für ein paar Minuten auch die Musik nicht mehr weiter. Auf die Frage, warum er nicht weggehe von hier, sagt er: "Wuhledar ist mein Zuhause." Wuhledar heißt - auf Ukrainisch wie auf Russisch - wörtlich: Kohle-Geschenk. Wuhle - Kohle, Dar - Geschenk. Die Stadt existiert nur wegen dem Bergbau und wurde in der Sowjetära während der Amtszeit Nikita Chruschtschow am Reißbrett geplant. Kumpels sind besonders eng mit dem Land, aus dem sie die Kohle holen, verbunden. "Und Kumpels sind sture Dickköpfe", sagt Jelena, die eben die Decke, die als Vorhang vor dem Kellerabteil hängt, beiseitegeschoben hat und auch in den Keller gekommen ist.

Helfer kommen seltener

"Wie lange wollen Sie denn hier ausharren, ohne Fließwasser, ohne Strom?" - "Bis der Krieg vorbei ist", sagt Oleksandr. "Freiwillige bringen Wasser, Brot und andere Lebensmittel. Was will ich mehr?" Doch jene, die ausharren, wie Oleksandr, werden weniger. Zuletzt lebten noch rund 50 Personen in dieser Siedlung, jetzt nicht einmal mehr zehn und Oleksandr berichtet, dass die Helfer nun nicht mehr alle zwei, drei Tage kämen. Denn seit dem 24. Jänner wurde der Beschuss immer schlimmer, die Abstände zwischen den Besuchen der Freiwilligen, die zumeist aus den umliegenden größeren Städten wie Pokrowsk und Dnipro hierherkommen, werden länger.

Oleksandr geht nach oben, nimmt ein kleines Säckchen mit - Vogelfutter. Damit lockt er Tauben an, die vor dem Eingang des Hauses zusammenfliegen. "Wenn nur endlich Frieden kommt. An irgendeinem Punkt müssen die Seiten doch miteinander verhandeln", sagt Oleksandr.

Mitarbeit: Alex Babenko und Yevhen Titov