Seventy-Six. Seven. Six. Twenty-Seven. Two. Seven. Four. Four only", hört man den Moderator kundtun, schon bevor man in die überdimensionale Mischung aus heiligem Dom und fürstlicher Ritterburg tritt. Zwischen kunstvollen Art-Déco-Elementen stehen hunderte Sitzgelegenheiten - die meisten von ihnen leer an diesem Freitagabend - mit altmodischen Geräten am Tisch, die die Bingo-Nummern anzeigen und in die man zusätzliche Münzen werfen kann: 1980er Flair trifft auf Mid-Century-Ästhetik. Im fürstlichen Rahmen sitzt das konzentrierte Publikum mit bunten Zahlenzetteln, bis die geschäftige Ruhe wieder von einem Schrei unterbrochen wird: "Bingo!" Nächste Runde. Im ehemaligen Granada Cinema in Tooting im Süden Londons lautet das Motto: "Bingo, Slots, Food, Drinks, Fun."

Dem ist allerdings einiges hinzuzufügen, denn das Gebäude selbst mag vielen, denen das als altmodisch verschriene Lotteriespiel fremd wirkt, als unwiderstehlicher Lockstoff dienen.

Illusion und Wirklichkeit

Die Form mag wichtiger sein als der Inhalt, hat nicht doch sogar der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan die Stätte im "Time Out Magazine" zum schönsten Gebäude "seiner" Stadt erkoren.

Hochtrabend geht es hier - zwischen überwältigendem Plafond, opulenten Ornamentsäulen, neo-gotischen Bögen und fantastisch-mittelalterlichen Wandbemalungen - dennoch nicht zu. Das Publikum ist bescheiden, die Preise für Tee, Bier, Fish and Chips sind weitaus niedriger als im Pub: Das Geld hier soll weniger durch Konsum als durchs Verspielen hereinkommen.

Sharon, eine Frau Anfang 40, setzt sich an den Nebentisch. Sie wirkt erschöpft und nimmt eine Reihe bunter Tupfstifte aus ihrer Handtasche, dazu eine Schachtel mitgebrachte Chicken Nuggets. "Das Essen hier kann ich mir nicht leisten, ich hab beim Imbiss gegenüber eingekauft", meinst sie, fast entschuldigend, trotz der niedrigen Preise in der Bingo Hall. "Ich bin so hungrig, gestern hab ich gar nichts gegessen", sagt sie zwischen zwei Bissen. Nachsatz: "Wenn ich wütend bin, denke ich nicht ans Essen."

Und dann erzählt sie eine durchaus typische Geschichte über die englische Klassengesellschaft, die, so scheint es, seit Jahrzehnten absichtlich gegen die Wand gefahren wird, sofern man nicht zur privilegierten Oberschicht gehört: Sharons Schwester, mit der sie ihr Leben lang Bingo spielen ging, starb erst kürzlich an Krebs - die Behandlung war unzureichend, meint Sharon.

Sie arbeitet als Verkäuferin in einer großen Supermarktkette, die sich keine Sicherheitsmitarbeiter leisten will und daher die eigenen Mitarbeiter dazu verpflichtet, Ladendiebe festzuhalten. Bei einem solchen Vorfall wurde ihr die Hand gebrochen, nun muss sie vor Gericht aussagen. Einen richtigen Anwalt kann sie sich nicht leisten, "aber ich hab einen aus dem Fernsehen", sagt sie: "Wenn wir gewinnen, wird er prozentuell beteiligt."

Sechs Tage die Woche arbeitet sie für ein Stundengehalt von 9,50 Pfund, also unterhalb des offiziellen Mindestlohns, der in London bei 11,95 Pfund liegt. Sharons Chefin meint, für die Gerichtsverhandlung solle sie sich einen Urlaubstag nehmen: Sie müsse dort ja nicht erscheinen.

Von der Seite ruft plötzlich eine andere Bingo-Spielerin: "Pst! Der Manager!", und warnt Sharon, ihr Essen von auswärts zu verstecken. Wenn er es sieht, fliegt sie raus. Unterdessen setzt der Moderator zur nächsten Partie an: "Forty-nine. Four. Nine."

Am Ursprung dieser Kathedrale stehen die Brüder Sidney und Cecil Bernstein, die ab 1930 ihre Granada-Kinokette etablierten. Den Firmennamen soll die treibende Kraft Sidney Bernstein nach seinem Lieblingsurlaubsort gewählt haben. Wichtig war, das exotische Klima einer fremden Welt zu kreieren, um das das Pilgern ins Lichtspieltheater zu einer überirdischen Erfahrung zu machen.

Sidney Bernstein beauftragte den Theaterarchitekten Cecil A. Masey für diesen spektakulären Prachtbau, doch mehr noch konnte der russische Design-Wunderwuzzi Theodore Komisarjevsky seine Visionen als Innenarchitekt hier zum Leben erwecken.

Filmriss

Am Eröffnungsabend im September 1931 kamen 3.000 Zuschauer ins Filmtheater - und doppelt so viele Neugierige mussten draußen bleiben. Das Granada hatte eine eigene Abstellfläche für Kinderwagen und einen riesigen Parkplatz für 250 Automobile, als diese für die meisten noch unerschwingliche Luxusobjekte waren. Zudem verfügte es nicht nur über eine Leinwand, sondern auch eine Bühne mit einer jener bezaubernden Theaterorgeln, die durch magisch-einlullende Klänge zu hypnotisieren vermögen.

An filmfreien Tagen wurden Zirkusaufführungen, Theaterstücke und musikalische Darbietungen geboten: etwa von Jerry Lee Lewis, Frank Sinatra, den Beatles und Roy Orbison. Und: Ab und zu wurden die Bretter dieser Bühne auch von überaus populären Wrestling-Matches gebogen.

Sidney Bernstein allerdings war Entrepreneur, kein Nostalgiker: Als das Fernsehen dem Kino ab den 1950ern zur Konkurrenz wurde, betrieb er zusätzlich die Granada Television Company, die bis heute als Teil von ITV existiert. Die Welle des Kinosterbens ließ sich jedoch nicht mehr aufhalten: 1971 pilgerten nur noch 600 Besucher pro Woche ins Granada, und die Brüder Bernstein beschlossen, das Gebäude abzureißen und stattdessen Bürotürme zu bauen.

Proteste der Bevölkerung wurden laut, und durch das Engagement von Lokalpolitikern steht das Gebäude seit 1972 unter Denkmalschutz. 1973 aber wurde das Kino Opfer eines Hochwassers und hatte damit seinen letzten Film gezeigt. Es folgte ein dreijähriger Dornröschenschlaf, und den Weckruf machte: Bingo!

Das Medium der kollektiven Zerstreuung hat sich also geändert, gewisse Grundfunktionen aber bleiben erhalten. Im September 2000 wurde der Status des Granada Theatres auf "Grade I" - also den höchsten Denkmalschutz - erhöht, und damit steht die Bingo Hall auf einem Level mit dem Buckingham Palace und der Tower Bridge. Die letzte Bingo-Runde ist um 21.30 Uhr vorbei, bis 22 Uhr wird der Saal geräumt. Man kann zwar an den Glücksspielautomaten vorne im Foyer 24 Stunden durchzocken, aber nur ein paar Hardcore-Spieler und einsame Nachtschattengewächse glauben daran, am nächsten Morgen das erste Mal mit vollen Säcken heimzugehen. Oder lassen sich vom eintönigen Automatengeplänkel in meditative Trance versetzen.

Sharon zuckt mit den Schultern und geht unbeeindruckt an den einarmigen Banditen vorbei: Gewonnen hat sie ohnehin noch nie. "Hauptsache, ich war ein bisschen abgelenkt", sagt sie. Und aufgewärmt - denn zu Hause kann sie sich das Heizen nicht mehr leisten. Sie erzählt vom Schimmel, der ihren ganzen Sozialwohnblock befällt, seit die zuständigen Behörden eine neue "Isolierschicht" in die Wände eingezogen haben. Beschwerden der Bewohner werden geflissentlich ignoriert: Das Erbe eines nach dem Zweiten Weltkrieg couragiert aufgezogenen Sozialstaats, der nun seit 40 Jahren von der Politik torpediert wird. Im Hintergrund hört man noch die Spielautomaten zirpen und jenes Geld fressen, das den Leuten ohnehin fehlt. Good Night, Little Britain.