Als im Februar in der Südosttürkei die Erde bebte und tausende Gebäude wie Kartenhäuser einstürzten, kostete das rund 50.000 Menschenleben. Die Katastrophe ließ erneut Fragen nach der Erdbebensicherheit Istanbuls aufkommen. Zu Recht, denn die Stadt mit rund 16 Millionen Einwohnern liegt an der sogenannten Nordanatolischen Störung. "Entlang dieser Grenze zwischen der eurasischen und der anatolischen Erdplatte gab es in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder schwere Erdbeben", erklärt der Geologe Sükrü Ersoy von der Yildiz Universität in Istanbul. Und dabei sei ein Muster zu erkennen.
So berichten historische Aufzeichnungen über das Beben des Jahres 1509, das die Region nachts mit einer Stärke von 7,7 erschütterte. Auf das Hauptbeben folgten zahlreiche Nachbeben, Erdrutsche unter Wasser lösten außerdem einen Tsunami aus, der die damalige Hauptstadt des Osmanischen Reichs traf, so Ersoy. Die genau Zahl der Opfer ist unbekannt, Schätzungen gehen aber von mehr als 10.000 Toten aus.
"Es dauerte rund 250 Jahre, bis sich erneut ein Beben ähnlicher Stärke ereignete", erzählt Ersoy. Im Mai 1766 bebte eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang die Erde, was enorme Verwüstungen anrichtete. Damals wurde der Sultanspalast schwer beschädigt; die Kuppel der Fatih-Moschee und Teile der alten Stadtmauer stürzten ein. Das Erdbeben traf die gesamte Westküste des Marmarameeres. Schätzungen zufolge starben rund 4.000 Menschen.
Geht man davon aus, dass sich Erdbeben dieser Stärke etwa alle 250 Jahre wiederholen, so stehe das nächste Erdbeben kurz bevor, meint Ersoy.
Untersuchung mit akustischen Verfahren
Die Bewegungen entlang der Nordanatolischen Verwerfung im Marmarameer werden von Forschern seit Jahren mithilfe eines akustischen Verfahrens untersucht. Das Ergebnis ist beunruhigend: Die aufgestauten tektonischen Spannungen zwischen der eurasischen und der anatolischen Platte sind erheblich; die Erdbebengefahr ist hoch. "Wie stark die Erdbeben entlang geologischer Verwerfungen sind, hängt davon ab, wie sich die Flanken der Störungszonen zueinander bewegen", sagt Ersoy. Gibt es eine kontinuierliche Bewegung zueinander, entladen sich die tektonischen Spannungen in regelmäßigen kleineren Beben, große Erdbeben bleiben jedoch aus. Geologen sprechen in diesem Zusammenhang von einem aseismischen Kriechen.
"Problematisch wird es, wenn sich die Flanken ineinander verhaken", so der Geologe. Dadurch wird die Bewegung gehemmt, und die mechanischen Spannungen im Gestein bauen sich immer weiter auf. Wird der Druck auf das Gestein einmal zu hoch und es bricht, hat das heftige Erdbeben zur Folge. Und genau ein solches Szenario droht Istanbul. Die Forscher gehen davon aus, dass die Spannungen in der Region mittlerweile erheblich sind, da das letzte aus diesem Segment der Verwerfung bekannte schwere Beben jenes im Jahre 1766 war.
Das richtete nicht nur schwere Verwüstungen in Istanbul an - auch das Straßennetz rund um die Metropole lag in Trümmern, sodass die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser zusammenbrach. Wären im Falle eines schweren Bebens die Flughäfen des modernen Istanbul noch einsatzbereit? Anders als beim alten Atatürk-Flughafen im Südwesten Istanbuls sei der Boden, auf dem die beiden anderen Flughäfen erbaut wurden, stabil, stellt Ersoy fest. Es sei daher davon auszugehen, dass sowohl der neue Istanbul-Flughafen auf der europäischen Seite als auch Sabiha Gökcen auf der asiatischen Seite des Bosporus in Betrieb bleiben werden.
Allgemein sei der asiatische Teil der Stadt wegen des festeren Untergrunds ein Stück weit sicherer als der europäische, so der Geologe: "Auf der europäischen Seiten befinden sich außerdem viele historische Gebäude, die bei einem Beben einzustürzen drohen." Ersoy geht davon aus, dass an die 150.000 Gebäude in Istanbul ein schweres Beben nicht überstehen würden: "Wir sollten das ernst nehmen: Die Zerstörung wäre enorm." Aber damit nicht genug. Ein schweres Beben könnte gewaltige Erdrutsche unter Wasser auslösen. Die Folge wäre ein Tsunami, dessen Flutwelle die Stadtviertel entlang des Meeres treffen würde. Ein Szenario, das auch im September 1509 eintrat, als die Häuser im Stadtteil Galata überflutet wurden.
Im Taxi vom Flughafen ins Stadtzentrum erklärt der Fahrer, dass es kein Erdbeben in Istanbul geben werde: "Glauben Sie den Medien nicht, die wollen nur der Türkei schaden, indem sie die Touristen verschrecken." Den Einwand, dass sich zahlreiche türkische Geologen dieser Expertise anschließen, lässt er nicht gelten: "Die übertreiben doch, weil sie gegen Präsident Erdogan sind. Erdbeben können überall passieren."
Es ist der politische Wille, der zählt
Weniger gelassen nimmt die Erdbebengefahr der Kellner in einem Café im Stadtteil Beyoglu. "Ja, ich mache mir Sorgen", gibt der junge Mann zu. Ein Erdbeben der Stärke 6 bis 6,5 reicht aus, um große Teile Istanbuls zu zerstören. "Aber was sollen die Menschen tun? Sie haben ihre Jobs hier, ihre Wohnungen, Familien und Freunde." Wegzuziehen sei aus sozialen und finanziellen Gründen für die meisten keine Option. Selbst diejenigen, die wissen, dass sie in erdbebengefährdeten Häusern leben, können meist nicht rasch umziehen. Auf dem extrem angespannten Istanbuler Wohnungsmarkt eine neue, kostengünstige Unterkunft zu finden, ist alles andere als einfach.
Geologe Ersoy lebt mit seiner Familie zwar außerhalb Istanbuls, in einem erdbebensicheren Haus, der Gefahr eines möglichen Bebens entgeht er dennoch nicht. "Wir alle haben unsere Jobs in Istanbul", berichtet Ersoy. "Niemand weiß, wo wir uns aufhalten werden, wenn das Erdbeben losbricht."
Das letzte schwere Beben in der Region ereignete sich 1999 nahe der Stadt Izmit, knapp hundert Kilometer östlich von Istanbul. Als sich damals die Erdkrustenschollen entlang der Nordanatolischen Verwerfung abrupt bewegten, stürzten mehr als 120.000 Gebäude ein, 17.000 Menschen starben.
"Als Reaktion auf dieses Beben hat die Regierung neue Regulationen für Bauvorschriften eingeführt", erzählt Ersoy. Rund 1.500 als erdbebengefährdet eingestufte Gebäude in Istanbul seien abgerissen und neu errichtet oder renoviert worden, darunter Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungsbauten und Wohnheime.
"Zusätzlich wurden in Istanbul Zonen definiert, die nicht bebaut werden dürfen", sagt Ersoy. Plätze, auf denen sich die Einwohner im Fall eines Erdbebens versammeln und später Containerdörfer für Wohnungslose errichtet werden können. Doch Bauland ist begehrt in Istanbul, die Grundstückspreise sind hoch. So dauerte es nicht lange, bis viele dieser ausgewiesenen Sammelplätze mit Einkaufszentren oder luxuriösen Wohngebäuden überbaut waren. Auch sind längst nicht alle Gebäude der Metropole erdbebensicher. Zu viele der älteren Gebäude sind aus Ziegeln oder minderwertigem Beton erbaut und würden ein Beben nicht überstehen.
"Die tektonischen Spannungen am Gebiet von Istanbul haben bereits ein Maximum erreicht", warnt Ersoy. Das Beben von Izmit konnte diese Spannungen nicht entlasten. Der Geologe ist daher überzeugt, dass es in den nächsten zehn Jahren in Istanbul zu einem schweren Beben der Stärke 7 bis 7,5 kommen wird.
Einen dauerhaften Schutz könnten nur starke, den Bodenverhältnissen angepasste Gebäude bringen, so Ersoy: "Gebäude und Untergrund müssen miteinander in Einklang sein." Das sei grundsätzlich möglich. "Wir haben in der Türkei Baufirmen mit entsprechender Expertise, und die Regierung verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel", ist der Geologe sicher. Es müsse nur der politische Wille vorhanden sein.