"Wiener Zeitung": Vor der letzten österreichischen Ratspräsidentschaft 1998 haben Sie die Tour des Capitales, den Besuch der Hauptstädte, auf die damaligen EU-Kandidatenstaaten ausgedehnt. Diese sind nun seit einem Jahr in der Europäischen Union. Haben Sie damals schon erwartet, dass dies so glatt geht?

Wolfgang Schüssel: Gehofft. Nachdem ich ein ziemlich unverbesserlicher Optimist bin, weiß ich, dass Hoffnungen erfüllt werden. Als 1998 die Verhandlungen aufgenommen wurden, haben dies einige große Mitgliedsstaaten sehr kritisiert. Sie wollten später anfangen. Ich habe sehr darauf gedrängt, dass wir es tun. Dass es so glatt gehen würde, vor allem im Zeitablauf und über die sechs, die damals im Gespräch waren, hinaus, hat man nur hoffen können. Die Utopien von einst sind nun weit überholt. Die Lehre daraus ist: Trau dich was.

Was soll sich Europa jetzt trauen?

Die Europäische Union hat eine Menge von Einzelvorhaben. Die Gefahr ist, dass das große Bild nicht mehr erkannt wird. Einzelentscheidungen sind weiter wichtig, aber das Ganze ist stärker zu beschreiben. Das heißt, Europa zu einem globalen Akteur zu machen, der mit großem Ernst an seine Aufgaben herantritt. Europa soll menschlicher, sozialer und nachhaltiger werden.

Ist das eine Substanz- oder eine Kommunikationsfrage?

Beides. Beispielsweise haben wir nun festgelegt, bis 2010 ein halbes Prozent unseres Volkseinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zu widmen. Damit geht die EU weit über das hinaus, was noch vor zehn Jahren für möglich gehalten wurde. Das ist eine Substanzfrage. Dabei muss man aber auch die Bevölkerung mitnehmen und erklären, warum das wichtig ist.

Aber gerade in Österreich sind die Einwände gegenüber der Europäischen Union groß, ist Europa-Müdigkeit zu spüren. Wird Europa schlecht verkauft?

Ich sehe das ganz anders. Laut einer Langzeitstudie wächst das Interesse an der Außenpolitik. Im Vergleich zu anderen Ländern zählen sich die Österreicher zu den am besten Informierten. Das Europa-Bewusstsein ist nicht schlechter als vor zehn Jahren. Es ist eine merkwürdige Mär, dass die Österreicher nicht informiert sind und die Politik in Österreich nicht Europa zugewandt ist.

Es gibt jedoch konkrete Vorbehalte. So ist laut einer Eurobarometer-Umfrage die Skepsis gegenüber den nächsten Erweiterungen in Österreich EU-weit am höchsten.

Vielleicht ist das auch der Humus für das richtige Vorgehen. Man muss nicht alles euphorisch und zu 102 Prozent begrüßen. Jede Entscheidung hat Vor- und Nachteile. Ich bin nachdrücklich für den EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens. Trotzdem benenne ich auch die Schattenseiten: notwendige Reformen im Justizwesen, Kampf gegen organisiertes Verbrechen, Korruptionsbekämpfung. Die Länder müssen sich anstrengen. Es ist positiver, das offen anzusprechen.

Ist das auch ein Signal an die Türkei und die Ukraine?

Es geht nicht, zu behaupten, alles ist machbar und verursacht keine Schwierigkeiten. Diese Mentalität enthält viel eher den Kern für kommende Probleme.

Die Korruption in Bulgarien und Rumänien hat internationale Spitzenwerte. Verstehen Sie die Angst der Bevölkerung vor einem Transfer dieser Phänomene nach Westeuropa?

Der Balkan war schon immer Europa. Ich warne vor der Überheblichkeit der EU-15 zu sagen, bei uns hat es das nicht gegeben. Auch da gab es Korruptionsfälle. Davor ist niemand gefeit. Wir müssen die Länder ermutigen, das zu thematisieren. Österreichische Unternehmen werden ihnen bestätigen: Seit die EU-Beitrittsperspektive da ist, ist viel weiter gegangen. Diese Perspektive muss aufrecht bleiben.

Was für Schwierigkeiten kommen auf die EU zu, sollte die EU-Verfassung in Frankreich abgelehnt werden? Was ist danach zu tun?

Zunächst einmal nicht spekulieren. Ich will die Situation in Frankreich nicht beurteilen. Aber es zeigt, wie problematisch es sein kann, aus innenpolitischen Gründen ein Referendum anzusetzen, das dann möglicherweise über ganz andere Fragen geführt wird als über die EU-Verfassung. Wenn die Ratifizierung scheitert, müssen wir uns zusammensetzen und über die Konsequenzen beraten.

Zu den größten Problemen, die höchstwahrscheinlich auf Österreich im ersten Halbjahr 2006 zukommen, zählen die Verhandlungen über den Finanzrahmen 2007 bis 2013. Österreich besteht auf einer Beschränkung der Ausgaben auf ein Prozent des Bruttonationaleinkommens, muss aber als Ratspräsidentschaft einen Kompromiss finden.

Das ist die Rolle der Präsidentschaft. Da sind keine nationalen Interessen zu vertreten, sondern es ist für sechs Monate ein Dienst für das Wohl der Gemeinschaft zu leisten. Es ist aber auch richtig, dass der Finanzminister unsere Position sehr klar in Erinnerung ruft, solange wir nicht die Präsidentschaft haben.

Heißt das, Österreich wird seine Position überdenken müssen?

Wir treten ja durchaus für mehr Ausgaben ein, aber wo steht geschrieben, dass wir dafür eine Budgetsteigerung um 40, 50 Prozent hinnehmen müssen? Jeder von uns muss jeden Euro dreimal umdrehen. Das sollte die EU-Kommission auch tun. Ein Konsens wird dann möglich sein, wenn sich jede Seite ein Stück weit bewegt. Ich hoffe, dass dies noch der jetzige Ratsvorsitzende Jean-Claude Juncker schafft.

Es gibt auch innerhalb Österreichs unterschiedliche Auffassungen. Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl etwa sagt, der EU-Beitrag sollte über ein Prozent gehen.

Es gibt Meinungsfreiheit. Das beunruhigt mich nicht. Mehr beunruhigen würde mich, würden die Sozialpartner immer nachbeten, was der Bundeskanzler und der Finanzminister gesagt haben. Auch dem Bauernbund ist die Ein-Prozent-Grenze zu eng, ebenso einigen Bundesländern. Wir werden trotzdem auf unserer Linie bleiben, weil es im Gesamtinteresse sinnvoll ist. Ich habe nichts davon, sieben Jahre lang wesentlich mehr zu zahlen, damit ich ein bestimmtes Projekt ein wenig besser finanziert bekomme.

Sie haben von Europa als globalem Akteur gesprochen. Ist Europa aber nicht in seiner Selbstzufriedenheit ein wenig träge geworden?

Ich halte von diesen Selbstgeißelungen nichts. Europa ist heute schon ein Faktor. Es bezahlt den größten Posten im UNO-Budget. In jedem Krisenherd steht die EU als Ansprechpartner für Hilfe zur Verfügung in wirtschaftlicher Hinsicht und bei Friedenseinsätzen. Auch vor China und Indien brauchen wir uns nicht zu fürchten. Der jährliche Zuwachs von zwei Prozent, den Europa erwirtschaftet, ist in absoluten Zahlen mehr als die neun Prozent, die China erwirtschaftet. Europa soll sich nicht kleiner machen, als es ist.

Einige neue EU-Staaten sehen das Potenzial aber nicht ausgeschöpft. Sie beklagen, dass ihnen die Freizügigkeit am Arbeitsmarkt nicht gewährt wird. Wie lange bleiben die Übergangsfristen aufrecht?

Vermutlich sieben Jahre, wie ausverhandelt. Es war ein vernünftiges Ergebnis, das dazu beigetragen hat, den Beitritt glatt über die Bühne gehen zu lassen. Man hätte sich auch sieben Jahre Zeit für die Verhandlungen lassen können. Wir wollten aber lieber schneller die neuen Mitglieder aufnehmen dafür mit längeren Übergangsfristen. Ich glaube nach wie vor, dass das der richtige Ansatz war. Er hat uns auch Akzeptanz für den Beitritt seitens der Bevölkerung gebracht. Übergangsfristen hat es auch für Spanien und Portugal gegeben.

Die wurden aber früher als vorgesehen aufgehoben

Aber nicht gleich, ein Jahr nach dem Beitritt.

Ein anderes europäisches Thema ist die gemeinsame Verteidigung. Wie wichtig ist dieses Ziel für Österreich?

Ich halte es für positiv, wenn so etwas entsteht. Wenn Europa nicht in Abhängigkeit von Amerika oder anderen bleiben will, muss es seine Verantwortung leben, innerhalb Europas und im näheren Umfeld. Dazu gehört die Fähigkeit, Polizei- oder Friedensmissionen durchzuführen, Überwachungen, Sicherheit zu gewähren. Die EU wird trotzdem nie eine Militärmacht sein, vor der man sich fürchten muss. Aktive Friedenspolitik ist aber Teil einer gesamteuropäischen Außenpolitik.

Bedeutet das kein Abrücken vom Neutralitäts-Gedanken, der auch von Ihnen in den letzten Tagen auffallend intensiv betont worden ist?

Wir haben nur wiederholt, was geltende Bundesverfassung ist. Das Gesetz verpflichtet Österreich zu drei Punkten: Keine Beteiligung an Kriegen, keine fremden Truppen in Österreich und keine Teilnahme an einem militärischen Bündnis. Das gilt nicht nur heute, sondern auch in Zukunft; hindert uns aber nicht daran, an der Friedensarbeit der Europäischen Union teilzunehmen. Ein gutes Beispiel für die österreichische Neutralität war der Irak-Krieg: Wir haben uns in diesem Konflikt für vollkommen neutral erklärt. Wir haben keine Überflüge genehmigt und nichts getan, was problematisch gewesen wäre.

Im Kosovo-Konflikt hingegen wurden solche Überflüge erlaubt, obwohl es kein UNO-Mandat gab. Würde in einer ähnlichen Situation die entstehende europäische Streitmacht nun stärker auftreten als damals? Was würde sie tun?

Alles, damit so eine Situation erst gar nicht entsteht oder der Konflikt rasch wieder entschärft wird. Wir würden aufgrund der europäischen Verfassung und der UNO-Prinzipien handeln. Der sicherste Friedensbringer ist aber unsere Präsenz und die Perspektive eines EU-Beitritts.

Was wäre die Perspektive bei vorgezogenen Parlamentswahlen in Österreich? Würden sie den Ablauf der Ratspräsidentschaft sehr beeinträchtigen, fänden sie im ersten Halbjahr 2006 statt?

Erstens hat es niemand vor. Zweitens: Wenn es der Fall ist, dann werden Wahlen abgehalten. Das hat es früher auch gegeben. Es ist nichts Besonderes, wenn auch nichts Wünschenswertes. Ich habe vor, zu dem Zeitpunkt zu wählen, den die Verfassung vorschreibt: im Spätherbst des Jahres 2006.