Ich lasse mir diese Frage auf der Zunge zergehen in der mittäglichen Betriebsamkeit eines Mittwochs, im Schatten der Markisen, unter denen sich Italiener wortreich unterhalten in einer ureuropäischen Sprache, die ich trotz meines EU-Passes nicht einmal ansatzweise verstehe.

15 Tischchen stehen auf diesem schattigen Plätzchen vor dem Kaffeehaus in der Fußgängerzone.

An einem Tisch sitzt ein vierschrötiger, feister, junger Mann mit seinem Freund, der genauso wasserstoffblondiert ist wie er. Er kratzt sich seinen immensen Bauch und bläst gelangweilt den Rauch seiner Zigarette durch seine geblähten Nasenlöcher.

Er und sein Freund starren lüstern auf das pralle Dekolletee der Kellnerin, die ihnen den Eiskaffee und das Starkbier serviert. Es ist kräftiger, türkischer Tabak, den er raucht. An dem anderen Tischchen - es könnte der 4. sein von den 15 - sitzt ein italienischer Gigolo. Er rückt sich die schwarze Sonnenbrille zurecht und fährt sich mit den Fingern durch sein dichtes, dunkles Haar, das so gelockt ist wie mein eigenes.

Ich konzentriere mich darauf, wie ich meinen Standpunkt darlegen soll. Ich will einen netten Essay schreiben, in dem auch drei Weise auftauchen, die mit strengen Augen nach düsteren Flecken suchen.

Plötzlich fällt mir eine türkische Familie auf. Der gelernte Österreicher in mir meldet sich, und ich bedaure die Frau, die in der trockenen Hitze dieses Augusts im schwarzen Tschador drei kleine Kinder unter Kontrolle hält, die sie auf Deutsch und Türkisch drangsalieren und sie in den beiden Sprachen ununterbrochen "Mama" nennen. Im Kinderwagen sitzt das Kleinstkind. Es sieht mir mit seinen großen, schwarzen Augen ins Gesicht, und ich lächle ihm zu.

Ist dieses Kind Türke oder hat es die Gnade der österreichischen Staatsbürgerschaft gewonnen nach Hürdenläufen in den Behörden? Was sieht die Mutter des Kleinen in den Reflexionen der Schaufensterscheiben, in die sie blickt? Weiß sie, dass ihr Mutterland in die Europäische Union aufgenommen werden will? Interessiert es sie und ist es überhaupt wichtig für sie? Fühlt sie die verachtend-mitleidigen Blicke der Frauen im sommerblütenweißen, figurbetonten T-Shirt, die die türkische Mutter in ihrem Unterbewusstsein fürchten, da sie das archaische Urbild der Frau für sie darstellt? Die sie ablehnen, während sie das Getränk, das die Türken gebracht haben, schlürfen?

Die Frauen im Blütenweißen unterhalten sich über Quarthefte, in denen ihre hellhäutigen Kinder das Schreiben lernen, und die ihnen zu teuer sind. Und eines ihrer Kinder, ein süßes, freches Mädchen von etwa fünf Jahren, trägt eine UV-sichere Kindersonnenbrille, deren Gläser in Belgien hergestellt wurden, während den Rahmen fachkundige, deutsche Hände fertigten.

Dem kleinen Mädchen wurden die Brillen von einem Welser Optiker angepasst, während ihre Mutter, die ein spanisches Hüfttuch trägt, mit ihr im Optikerladen wartete und der Vater sich in dieser kleinen Wartezeit ein Eis nach original italienischem Rezept kaufte.

Wer sind wir?

Ich werde nichts schreiben in diesem Essay über Ausländerkriminalität und Sanktionen. Kein Wort werde ich schreiben über Weise und Schulterschlüsse, Unsummen von Geld, die im Nichts verschwinden, und auch keine traurige Zeile über Politiker, die in einer stählernen Maschinerie korrumpiert worden sind.

Und auch nicht einen Satz über Sandkörner, die in den Gewinden des Systems zermahlen werden bei dem Versuch, dieses aufzuhalten. Nein, das will ich nicht! Ich will mit keinem Buchstaben den Wurm der Fäulnis nähren, den manche Gazette in so manches Herz gepflanzt hat.

Ich glaube, unser Platz befindet sich an der Stelle des Herzens, an der sich Unsicherheit in Freude verwandelt. Zum Beispiel, wenn

eine türkische Mutter ihren Sohn maturieren sieht und jeden Tag das Bild ihres Kindes in der Maturazeitung ansieht. Dieser Platz ist in der Bar, wo der jugoslawische Hilfsschweißer mit seinen Kollegen aus Wels und Linz auf ein kühles Bier geht, den würzigen Geruch der Bar einatmet und sich zurücklehnt, während er sich in Sicherheit wähnt und nicht mehr nachts verzweifelt wach liegen muss, wenn er an den Himmel zu Hause denkt.

Was vereint uns?

Ist es die Liebe? Sind es Graffitos auf den Bahnhofswänden, auf denen ein Ahmed einer Karin seine Liebe kundtut? Ich liebe den Geruch meiner Stadt im Sommer, wenn der warme Beton meine Fußsohlen wärmt und aus dem Kebabstand der Duft von gebratenem Fleisch und Zwiebeln mir entgegensteigt. Im Sommer, wenn die Lieder der Straßenmusikanten sogar durch meine Kopfhörer des deutschen CD-Players dringen, dann weiß ich, wir sind Europa. Obwohl meine Halskette abblättert und der Nickel unter dem Silber hervorblitzt, ist sie doch ein Stück meines europäischen Lebens. Dabei hat sie mir ein Peruaner verkauft.

Die Frage nach dem Platz in dieser Union ist eine Frage der Sichtweise, die sich nur bedingt stellt. Österreich muss sich nicht mehr definieren durch seinen Opernball, durch seine Reitschule, es sind leere Schreine der nationalen Selbstdefinition, an denen man sich festgekrallt hat wie der Verletzte an den Arm des Retters. Das Selbstgefühl dieser Nation wurde vorwärtsgetrieben durch den qualvollen Schmerz der Amputationen, die die Kriege ausgeführt hatten.

Dieser furchtbare Schmerz des Verlustes wurde zu einem Gift des Neides, das fortwährend der Generation, die mit der Zweiten Republik zu leben gelernt hat, ins Gesicht gespuckt wird. Wie groß ist der Schmerz eines Volkes, wenn Gebiete wegbrechen, die man zwar nicht liebt, trotz allem aber besitzt? Ich glaube, es tut sehr weh und es braucht Generationen, um es zu überwinden.

Jahrzehntelang atmete Österreich dieselbe abgestorbene Luft der selbst verordneten Isolation ein, und die angebliche Weltoffenheit begann zu gammeln und wurde heimlich zum Zerrbild ihrer angeblichen Präsenz. Österreich war ein Ort der multinationalen Kultur und liegt wie ein Schmelztiegel der wunderbaren verschiedenen Kulturen inmitten des Kontinents.

Es liegt wie ein Freund, ein Verwandter, den man gerne mag, zwischen dem Westen und dem Osten.

Die Erde jedes Landes wird befruchtet von den Samen, die der Wind über die Grenzen trägt. Das Wasser der Donau fließt träge im Sommer und das Licht der untergehenden Sonne bricht sich auf der spiegelnden Oberfläche des Flusses. Wenn ungarische Bauern auf diese leuchtende Oberfläche blicken, dann haben sie die selben Lichtflecken im Augenlicht wie die österreichischen Landwirte, die am Abend den Blick über die herbe Landschaft wandern lassen.

Wir leben in den vereinigten Staaten von Europa. Und das Geld, das wir in der Tasche tragen, wird bald Euro heißen. In unseren Gehirnen rechnen wir jetzt schon auf Euro um. Wir zahlen keinen Zoll mehr. Wir können hin, wohin wir wollen, und bleiben, wer wir sind. In einer Zeit, in der wir uns neu orientieren, fangen wir nun endlich an, die Werte neu zu setzen.

So, wie es nur irgend möglich ist, wenn das Alte nicht zerstört oder belächelt wird, sondern etwas Neues und Großes hinzukommt. Und dann plötzlich zu einer Selbstverständlichkeit wird, auf die man nicht mehr verzichten will.

Das Neue ist unser Europa, das sind unsere Menschen, unsere neuen Freunde. In dieser Situation kann man die Identität wieder neu entdecken. So lernt man wieder nationales Durchatmen ohne Gewicht auf der Brust.