1) Wo verläuft die Trennlinie zwischen Islam und Islamismus?

Es ist wichtig, zwei Trennlinien einzuziehen - zwischen Islam und politischem Islam sowie zwischen politischem Islam und Dschihadismus. Denn nicht nur die Kopftuchträgerin am Wiener Brunnenmarkt darf nicht in der aufgeheizten Stimmung in einen Topf mit gewaltbereiten Fundamentalisten geworfen werden. Auch Vertreter des politischen Islam, etwa die ägyptischen Muslimbrüder oder die konservativ-islamische Milli Görüs in der Türkei, haben sich nach 9/11 von dschihadistisch-terroristischen Gruppen distanziert. Selbst der Salafismus, der als ideologisches Fundament der Dschihadisten gilt, kennt eine dschihadistische und eine friedliche Strömung. Der Begriff "Islamismus" verschweigt diese Abgrenzung, deswegen hält ihn der Politologe Thomas Schmidinger für ungeeignet.

Der Übergang vom privaten zum politischen Islam verläuft dort, wo der Islam nicht nur Lebens-, sondern auch Staatsordnung ist; wo sich Frauen nicht verschleiern, weil es ihre Entscheidung ist oder sie so erzogen werden, aber Sittenwächter oder gesellschaftlicher Druck es vorschreiben; wo nicht eine Verfassung und Demokratie herrschen, sondern die Scharia. Der Übergang vom politischen Islam zum Dschihadismus, sagt Schmidinger, verläuft dort, wo Gruppen selbst festlegen, wer Gläubiger und wer Ungläubiger ist und sich dabei das Recht herausnehmen, Ungläubige zu töten - egal ob diese Muslime sind oder nicht.

2) Wächst die Zahl der Staaten, in denen der Islam die Politik bestimmt?

Experten zufolge ist der politische Islam seit den 1980er Jahren im Aufstieg begriffen. Davon zeugen etwa die Wahlen nach den Arabischen Revolten, wo Parteien gewannen, die den Islam zum Parteiprogramm erhoben haben, für sich entschieden (etwa die Muslimbrüder in Ägypten oder die Ennahda in Tunesien).

Auch wenn in diesen beiden Ländern aktuell wieder säkulare Regierungen an der Macht sind, beobachtet die Nahostexpertin Karin Kneissl insgesamt eine "starke Attraktivität des politischen Islam vor allem in jenen Gesellschaften, in denen er noch nicht ausprobiert wurde". In einem Land wie dem Iran, das sich seit 1979 Islamische Republik nennt, könnten weite Teile der Bevölkerung hingegen damit nichts mehr anfangen. Insgesamt sei ein Rückzug der säkular orientierten muslimischen Staaten festzustellen, man denke nur an die Entwicklungen in Syrien, Algerien oder der Türkei. "Der Trend geht zweifellos in die Richtung, mehr Islam in die Gesellschaften und in die Rechtsordnungen hineinzubringen", sagt Kneissl.

Laut dem Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker wurde seit den 1980er Jahren als Reaktion der politischen Führungseliten auf eine islamische Kritik an ihrer Herrschaft der Bezug auf das islamische Recht in viele Verfassungen hineingenommen, was aber nicht gleichbedeutend sei mit der Geltung der Scharia. In Saudi-Arabien, dem Iran und dem Sudan (in letzterem Land vor allem zur Absicherung der Diktatur) ist die Scharia am deutlichsten ausgeprägt; hier wird auch das islamische Strafrecht praktiziert. In Ländern wie der Türkei ist sie kein Teil des Rechtssystems. Wenn der türkische Präsident Recep Erdogan aber seine "fromme Gesellschaft" mit konkreten Lebensvorschriften propagiert, sehen manche darin bereits eine "Scharia light".

3) Steht der Koran für Muslime nicht automatisch über dem Gesetz?

Eine viel zitierte Studie hat ergeben, dass eine klare Mehrheit der österreichischen Türken den Islam über das österreichische Recht stellt. Thomas Schmidinger relativiert solche Studien. "Wenn gefragt wird, ob göttliches oder irdisches Recht schwerer wiegt, würden auch gläubige Christen so antworten." Würde konkret gefragt, ob die Bürger die Scharia oder das Handabhacken für Diebe in Österreich bevorzugen, würde wohl ein Bruchteil zustimmen.

So wie der Großteil der Muslime in Österreich seine Religion ausübt, kommt es auch zu keinen Kollisionen zwischen Islam und Gesetz. Ein Grenzfall ist etwa der Schwimmunterricht für geschlechtsreife Mädchen. Hier behelfen sich gläubige Familien mit einem Burkini. Werden Grenzen überschritten, weil etwa Eltern den Musikunterricht für Kinder ablehnen oder Schulen hetzerische Ideen verbreiten, schreiten Behörden verstärkt ein.

Trotzdem: Die Religion ist im Alltag viel präsenter als in westlich-christlichen Gesellschaften. Das hängt einerseits mit der Herkunft zusammen - die Mehrheit der Türken kommt aus konservativ-islamischen Gebieten in der Türkei. Andererseits divergieren in dieser Frage das Selbst- und Fremdbild der Muslime besonders stark.

Während Nicht-Muslime den Islam zunehmend als Bedrohung wahrnehmen, sehen ihn Muslime positiv und als etwas Identitätsstiftendes. Das führt dazu, dass auch Muslime, die nicht fünf Mal am Tag beten oder den Ramadan verstreichen lassen, sich als Muslime sehen. "Der Islam ist auch Lebensweise und Lebensphilosophie", sagt die Sprecherin der Muslimischen Jugend Österreich, Dudu Kücükgöl. "Man orientiert sich an bestimmten Sachen", sagt sie. Kücükgöl vergleicht den Islam in dieser Hinsicht mit Veganismus oder Buddhismus.

4) Warum wenden sich junge Menschen, die in Österreich geboren sind, verstärkt dem Islam zu?

Weil sich manche weder mit dem Herkunftsland der Eltern noch mit Österreich voll identifizieren. Die Umma (muslimische Weltgemeinschaft) bietet da Halt und Heimat. Zwar bietet ihnen Österreich alle Möglichkeiten, aber viele sind nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das liegt an Bildungsdefiziten und an der Parallelgesellschaft, die von beiden Seiten befördert wird. Tatsächlich haben nur wenige "echte" Österreicher Freunde, die Mohammed oder Ayşe heißen.