Düsseldorf/Barcelona/Paris. Der Co-Pilot der in den französischen Alpen zerschellten Germanwings-Maschine soll den Airbus mit 150 Menschen an Bord mit Absicht auf Todeskurs gebracht haben. "Es sieht so aus, als ob der Co-Pilot das Flugzeug vorsätzlich zum Absturz gebracht und so zerstört hat", sagte Staatsanwalt Brice Robin am Donnerstag in Marseille.

Der 28-Jährige sei zu dem Zeitpunkt allein im Cockpit und der Pilot aus der Kabine ausgesperrt gewesen, sagte Robin. Warum der Mann die Maschine in die Katastrophe steuerte, ist unklar. Hinweise auf einen Terrorakt gibt es laut Ermittlern und deutschem Innenministerium nicht. Lufthansa-Chef Carsten Spohr sprach in Köln vom "furchtbarsten Ereignis in unserer Unternehmensgeschichte". Germanwings ist ein Tochterunternehmen des Konzerns.

Deutsche Pilotengewerkschaft zweifelt an Selbstmord

Die deutsche Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) hat davor gewarnt, den Absturz der Germanwings-Maschine bereits als Selbstmord des Co-Piloten einzustufen. Bei den neuen Erkenntnissen der Ermittler handle es sich um "einen ersten Zwischenbericht", sagte VC-Sprecher Jörg Handwerg dem "Handelsblatt" (Online-Ausgabe) am Donnerstag. "Viele Fragen sind noch offen."

Nach Angaben der französischen Ermittler steuerte der Co-Pilot die Maschine offenbar absichtlich in die Katastrophe. "Woran macht man beispielsweise fest, dass der Sinkflug vorsätzlich eingeleitet wurde?", sagte Handwerg dem "Handelsblatt". "Aus unserer Sicht sind noch andere Möglichkeiten als Vorsatz denkbar." So sei noch nichts über den technischen Zustand des Flugzeugs bekannt. "Deshalb brauchen wir eine Auswertung des Flugdatenschreibers", mahnte Handwerg vor vorschnellen Schlüssen.

Die Gewerkschaft des Kabinenpersonals UFO e.V. erklärte hingegen, sie habe "keine Erkenntnisse, die der Darstellung der Staatsanwaltschaft in Frankreich entgegenstehen". In einer Mitteilung der Flugbegleitergewerkschaft hieß es: "Es muss also davon ausgegangen werden, dass tatsächlich dieses Einzelschicksal, über dessen Hintergründe noch nichts bekannt ist, zu dieser Tragödie geführt hat."

Der Airbus mit der Flugnummer 4U9525 war am Dienstag auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf, als er über Südfrankreich minutenlang an Flughöhe verlor und am Bergmassiv Les Trois Eveches zerschellte.

 
Viele Spekulationen

Die Flugzeugkatastrophe in Frankreich mit dem Co-Piloten als möglichen Auslöser führt automatisch zur Frage, welche psychischen Hintergründe als mitbeteiligte Ursachen zu finden sein könnten. Die extrem hohe Aggressivität mit dem absichtlichen zum Absturzbringen eines Flugzeuges mit 150 Insassen passt laut dem Wiener Experten Stephan Doering wenig zu einem Suizid infolge von Depressionen.

"Zunächst muss man sagen, dass derzeit alles, was man sagt, Spekulation ist und bleibt", betonte Doering, Leiter der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der MedUni Wien im AKH, Donnerstag am späten Nachmittag. Man sollte sich aber eines Faktums rund um die menschliche Psyche bewusst sein: "Es gibt nichts, was es nicht gibt."

Die extreme Aggressivität der Tötung der eigenen Person und fast 150 anderer, fremder Menschen spricht laut dem Experten wenig für einen Suizid infolge einer depressiven Erkrankung. "Der Depressive hat an sich schon Schuldgefühle. Für einen schwer depressiven Menschen wäre es ungewöhnlich, so viele andere Menschen mit in den Tod zu reißen." Zwar sei der Suizid eine gegen sich und manchmal auch gegen die nächsten Angehörigen gerichtete Aggression, aber solche Ausmaße wie bei dem Flugzeugunglück derzeit vermutet, wären sehr atypisch.

Doering betonte, dass - so die Abläufe wirklich so gewesen seien, wie die derzeitigen Hypothesen lauten - bei vorliegenden psychischen Störungen eher an ein "psychotisches Krankheitsbild" zu denken sei. Da komme es manchmal zu einem Verlust der Kontrolle über die Realität, zum Beispiel unter dem Einfluss von "Stimmen", die etwas befehlen würden. Eine Schizophrenie sei ein mögliches, aber nur eines von mehreren psychotischen Krankheitsbildern. Eine weitere Möglichkeit wäre auch noch eine schwere Persönlichkeitsstörung.

Nicht wirklich zu diesem Bild passt, dass es bisher gut belegte Berichte gibt, wonach sich Pilot und Co-Pilot der Germanwings-Maschine vor der Tragödie 20 Minuten lang im Cockpit normal unterhalten haben. Psychische Störungen sind nicht "auf Knopfdruck" da oder wieder weg.

Nicht außer Betracht lassen dürfe man bei den bisher bekannten Sachverhalten aber auch eine Möglichkeit, an die man ebenfalls zu denken habe, so Doering: "Das ist die Möglichkeit einer solchen Tat aus einem politischen Motiv." Für politisch motivierte Selbstmordattentäter gelten ganz andere Maßstäge. "Psychopathologisch ist das aber auch", sagte der Wiener Experte.

Aufnahmen wurden ausgewertet

Die Ermittler hatten seit Mittwoch die Aufnahmen des Stimmenrekorders ausgewertet. Schreie von Passagieren sind erst in den letzten Sekunden vor dem Aufprall zu hören. An der Absturzstelle bargen Rettungskräfte die ersten Opfer. Vielerorts in Deutschland versammelten sich Menschen zu einer Schweigeminute für die 150 Insassen, von denen 72 Deutsche waren.

Die Staatsanwälte erwägen nun Ermittlungen wegen eines Tötungsdeliktes gegen den 28-Jährigen. Der Pilot hatte nach den neuesten Erkenntnissen das Cockpit verlassen, um auf die Toilette zu gehen, und das Kommando seinem Kollegen übergeben. Als er zurück ans Steuer wollte, habe er die automatisch verriegelte Kabinentür nicht mehr öffnen können, schilderte der Staatsanwalt.

Merkel: Umstände der Katastrophe "schier unfassbar"

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die neuen Erkenntnisse über den Absturz der Germanwings-Maschine als eine "schier unfassbare Dimension" bezeichnet. Dass der Kopilot nach Erkenntnissen der Ermittler das Flugzeug bewusst zum Absturz gebracht habe, gehe "über jedes Vorstellungsvermögen hinaus", sagte sie am Donnerstag in Berlin.

Damit werde "dieser Tragödie eine neue, schier unfassbare Dimension gegeben", betonte die Kanzlerin. "Mich trifft diese Nachricht genau wie wohl die allermeisten Menschen", sagte Merkel weiter. Noch seien aber nicht alle Hintergründe bekannt. "Deshalb ist und bleibt es so wichtig, dass weiter ermittelt wird, dass jeder Aspekt weiter gründlich untersucht wird", fügte Merkel hinzu. "Die heutigen Nachrichten sind noch einmal eine fürchterliche Belastung für die Angehörigen der Opfer."

Kein Notruf

Die plausibelste Deutung gehe dahin, dass der Co-Pilot vorsätzlich verhindert habe, dass die Tür geöffnet werde. Auf Ansprache des Towers habe der Mann nicht reagiert. Ein Notruf sei nicht abgesetzt worden. Lufthansa-Chef Spohr erläuterte, dass es für den Notfall einen Sicherheitsmechanismus in der Kabinentür gebe: Dafür ist von außen ein spezieller Code einzugeben - kommt keine Antwort, öffnet sich die Tür. Der Kollege im Cockpit könne dies aber blockieren.

Der Name des Co-Pilot wurde mit Andreas L. angegeben. Bekannt war bereits, dass der Mann seit 2013 Co-Pilot bei Germanwings war. Davor hatte er laut Spohr aber schon seit etlichen Jahren für den Konzern gearbeitet, auch als Flugbegleiter. Vor sechs Jahren habe es eine mehrmonatige Unterbrechung der Pilotenausbildung gegeben, danach sei die Eignung des Mannes nach allen Standards überprüft worden. "Er war 100 Prozent flugtauglich. Ohne jede Auffälligkeit", sagte Spohr.

An der Cockpit-Tür der Unglücksmaschine war nach Angaben von Staatsanwalt Brice Robin kein Code zum Öffnen, sondern einer, mit dem sich der jeweils Zugangsberechtigte identifiziert. Die Tür verriegle sich ganz automatisch und werde dann von innen geöffnet, sagte der Vertreter der Anklagebehörde in Marseille, die weiterhin wegen fahrlässiger Körperverletzung ermittelt.

Die zweite Black Box, auf der die Flugdaten aufgezeichnet werden, ist nach Angaben von Robin noch nicht gefunden worden. Die Menschen an Bord seien wegen der hohen Geschwindigkeit, mit der die Maschine zerschellte, sofort nach dem Aufprall tot gewesen, der Staatsanwalt. Der von dem Copiloten - sein Name wurde mit Andreas L. angegeben - eingeleitete Sinkflug erfolgte mit üblicher Landegeschwindigkeit.

Kein Fehlverhalten des Piloten

Dem Piloten selbst sei kein Fehlverhalten vorzuwerfen, er habe "vorbildlich gehandelt". Spohr betonte: "Wir haben volles Vertrauen in unsere Piloten. Sie sind und bleiben die besten der Welt." Er sagte auch: "Wenn ein Mensch 149 Menschen mit in den Tod nimmt, ist das ein anderes Wort als Selbstmord."

Der Stimmenrekorder hatte laut Robin bis zuletzt schweres Atmen aus dem Cockpit aufgezeichnet, gesagt habe der Co-Pilot nichts mehr. In den letzten Minuten, bevor der A320 an einer Felswand zerschellte, hätten der ausgesperrte Kapitän und die Crew von außen gegen die Cockpit-Tür gehämmert. In den ersten 20 Minuten nach dem Start haben sich Pilot und Kopilot demnach ganz normal unterhalten.

Der zweite Flugschreiber sei noch nicht gefunden, sagte Robin. Die Bergung und Identifizierung der Opfer könne in dem unwegsamen Gelände mehrere Wochen dauern. Die aus Düsseldorf und Barcelona angereisten Hinterbliebenen hatte er vor der Pressekonferenz informiert. Die Erkenntnisse lösten Bestürzung aus. Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy schrieb auf Twitter: "Ich bin erschüttert."

Gerichtsmediziner werden abgeseilt

An der Absturzstelle gehen die Such- und Bergungsarbeiten weiter. Gerichtsmediziner und Gendarmen ließen sich von Hubschraubern aus an den Unglücksort abseilen, wie die Einsatzkräfte mitteilten.

Am Mittwoch war damit begonnen worden, die Leichen von der Absturzstelle zu bergen. Die Nacht über war der Einsatz unterbrochen worden. Die Behörden suchen außerdem weiterhin fieberhaft nach der zweiten Blackbox des am Dienstag abgestürzten Airbus A320.

Angehörige unterwegs zur Absturzstelle

Angehörige der Opfer landeten am Donnerstag auf dem südfranzösischen Flughafen Marseille-Provence. Die rund 50 Angehörigen waren in der Früh von Düsseldorf aus gestartet, um in die Nähe des Absturzortes zu gelangen. Mit an Bord des Airbus A321 reiste auch ein Betreuer-Team aus Seelsorgern, Ärzten und Psychologen. Auch aus Barcelona wurde ein Flieger mit Angehörigen spanischer Opfer erwartet.

Nach Angaben des Marseiller Staatsanwalts sind auch die Angehörigen von Pilot und Kopilot an den Absturzort gereist. "Aber wir haben sie nicht mit den anderen Familien zusammengebracht."

Die Bergung der weiteren Leichen könnte nach Angaben der Gendarmerie zehn oder 15 Tage dauern. Das sagte ein Sprecher in Seyne-les-Alpes. Die geborgenen Leichen würden in einem in der Nähe provisorisch eingerichteten Labor auf ihre Identität untersucht. Mehr als 30 DNA-Spezialisten und Rechtsmediziner arbeiten an der Identifizierung.

(Quellen: APA, Reuters, AFP, dpa)