Eine wichtige Rolle in einem der populärsten Märchen der Gebrüder Grimm spielt bekanntlich eine Großmutter. Die Geschichte von Rotkäppchen beginnt damit, dass eine Mutter zu ihrer Tochter spricht: "Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank und schwach und wird sich daran laben." Das Drama und seinen weiteren Verlauf kennt wahrscheinlich jeder Mensch der westlichen Kultur, man muss niemandem die Einzelheiten erzählen. In Hinblick auf die Rolle von Großeltern aber lohnt es sich, die Rolle der alten Frau anzusehen. Was wird über sie gesagt? Nicht mehr als dass sie krank und schwach ist. (Wenn man einmal von ihrer Neigung zu Wein und Kuchen absieht.)
Nun sind schon bald zweihundert Jahre vergangen, seit die Gebrüder Grimm ihre Märchen aufgezeichnet haben. Zweihundert Jahre, in denen sich die Lebenserwartung der Menschen und damit das Rollenbild von Großeltern grundlegend verändert haben. Die Soziologin Vera Gallistl von der Universität Wien sagt: "Die Rolle von Großeltern wird interessant, seit es wahrscheinlich geworden ist, dass drei Generationen zur selben Zeit leben", also erst seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Lag in Österreich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg die statistische Lebenserwartung von Männern noch bei knapp mehr als sechzig Jahren und die von Frauen bei knapp mehr als 65, so stieg sie bis in die Gegenwart auf gut achtzig Jahre für Männer und 89 für Frauen. Die Chancen, dass die Großmutter noch etwas anderes tun kann, als "krank und schwach" im Bett zu liegen und darauf zu warten, dass man ihr Wein bringe, sind also deutlich höher als zu den Zeiten der Gebrüder Grimm. (Damals lebte ein Mann übrigens im Durchschnitt 35,6 Jahre und eine Frau 38,4.)

Gallistl kann noch eine interessante Zahl hinzufügen. "Im Jahr 2003 hatten nach den Angaben der Statistik Austria von den Menschen, die jünger als 15 Jahre waren, 96 Prozent Großeltern." Man könnte also sagen, die Präsenz von Großeltern war fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg für die Mehrheit der Menschen zur alltäglichen Realität geworden. Und die Soziologin hat noch eine Zahl, die über die Verfassung moderner Großeltern sehr viel aussagt: Nach Angaben des deutschen Alterssurvey wurden die Menschen 2014 im Alter von 52, 2 Jahren Großeltern, eine Zahl, die man vermutlich im Großen und Ganzen auf Österreich übertragen kann.

Freude oder Belastung?
Wenn man sich das Bild vor Augen führt, das die heutige Generation der Fünfzigjährigen abgibt, dann zeigt sich sofort, wie gering die Wahrscheinlichkeit geworden ist, dass eine moderne Großmutter im Bett liegt, auf den Besuch des Rotkäppchens wartet und dabei versehentlich von einem Märchenwolf gefressen wird. Die modernen Großmütter sind dafür viel zu aktiv. Gut ein Viertel der modernen Großeltern ist noch berufstätig, wie die Soziologin aus ihren Zahlen ablesen kann, und verfügt daher nicht über endlose Zeitreserven, die man von Großeltern herkömmlich erwarten würde. "Das passt überhaupt nicht zu den immer noch weit verbreiteten Vorstellungen über die Großelternrolle", sagt Gallistl.
Moderne Senioren, die um vieles gesünder und flexibler sind als die Vorgängergenerationen, müssen also erst herausfinden, was sie mit der Großelternrolle anfangen. Wobei man die gute Nachricht voranstellen kann, nämlich, "dass das Bild der Großeltern", wie Gallistl betont, "sowohl von Eltern als auch von Kindern und von den Großeltern selbst überwiegend positiv beurteilt wird". Und dass verschiedene Studien zeigen, dass "Großelternschaft und die Betreuung von Kindern sich positiv auf die Lebensqualität der Älteren auswirkt".
Aber an diesem Punkt muss man sogleich differenzieren. Moderne Großeltern, die selbst noch aktiv im Leben stehen, wollen und können nicht unbeschränkt eingesetzt sein. Die deutsche Share-Studie aus 2016 belegt zum Beispiel, dass der Betreuungsaufwand, wenn er zu hoch wird, als Belastung empfunden wird. Deswegen ergeben Untersuchungen in verschiedenen Ländern Europas auch sehr verschiedene Einschätzungen der Belastung durch die Pflichten als Großeltern. In Spanien oder Italien, wo das staatliche Sicherungsnetz für junge Mütter und Familien weniger ausgebaut ist als in Deutschland und Österreich, bleibt der älteren Generation gar nicht anderes übrig, als weitreichende Pflichten zu übernehmen. In diesen Ländern tendiert die Haltung der Betroffenen zu ihrem Dasein als Großeltern ins Negative. In Deutschland oder Österreich, in Ländern also, in denen das staatliche Sicherungsnetz besser ausgebaut ist, überwiegen die positiven Beurteilungen der Erfahrungen von Großeltern. "Es hängt also sehr stark von der Sozialpolitik eines Landes ab", sagt Gallistl, "wie die Großelternschaft erlebt wird. Es überwiegt nicht automatsch die Freude an den Enkelkindern. Der Einsatz von Großeltern kann für die Betroffenen auch zur Belastung werden."
"Intimität auf Distanz"
Aber es geht auch anders. Der deutsche Alterssurvey, der Daten von 1996, 2008 und 2014 vergleicht, zeigt, dass in diesen Jahren der Umfang der Betreuungsarbeiten, die Großeltern leisten, abgenommen hat, die Wichtigkeit ihrer Rolle von den Jungen aber trotzdem gleich hoch eingeschätzt wird. Der Einsatz der Großeltern war also nicht mehr so selbstverständlich wie in vergangenen Zeiten, hat aber nicht an Bedeutung verloren. "Intimität auf Distanz", lautet der Fachbegriff, den Gallistl zitiert. Von den Jungen haben wie schon erwähnt 97 Prozent Großeltern, aber gerade einmal zwanzig Prozent leben mit ihnen zusammen.
Da die ältere Generation aber fitter und jünger ist als ihre Vorgänger, verändert sich auch ihr Auftreten. "Die Rollen von Großeltern werden pluraler", sagt die Soziologin. Ganz anders als Rotkäppchens bettlägrige Großmutter helfen moderne Großeltern beim Lernen, sind Reisepartner und verbringen mit den Enkelkindern sehr viel Zeit mit dem Konsum von Medien, Fernsehen, Radio, Internet. Fast die Hälfte der Zeit wird mit Medien verbracht, belegt eine aktuelle israelische Studie, deren Ergebnisse auf die meisten industrialisierten Ländern zutreffen könnten. "Mediatisierung" nennt die Fachwelt diese Entwicklung in den sozialen Beziehungen, wobei es aus der Perspektive der Senioren keineswegs nur um Konsum gehen kann, sondern auch darum, das Medienverhalten der Kleinen in eine bestimmte Richtung zu lenken.
An dieser Stelle kann sich das Verhältnis zwischen den Generationen aber auch umkehren. Wenn es um die neuen sozialen Medien jenseits des guten alten Fernsehens geht, dann ist die ältere Generation oftmals nicht mehr in der Lage, den Jungen zu helfen, geschweige denn, ihnen den richtigen Umgang beizubringen. Im Gegenteil. Ganze sechzig Prozent der Altersgruppe über 65 sind das, was die Soziologen "Non-User" des Internet nennen, ein Zustand, der weitreichende Folgen hat, nicht nur in Bezug auf die Enkelkinder. Bei Reisen und kulturellen Aktivitäten wird immer häufiger die Fähigkeit vorausgesetzt, online zu buchen. Wer sich im Internet nicht zurecht findet, wird mehr und mehr von sozialen Aktivitäten abgeschnitten.
Außerdem verändern sich die Beziehungen zwischen den Generationen, wenn die Großeltern einem wichtigen Bereich der Alltagswelt der Enkelkinder hilflos gegenüberstehen. "Intergenerational ist das schwer zu verkraften", sagt Gallistl und weist darauf hin, "dass es zusätzlich zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit neuen Technologien zwischen den Generationen auch professionelle Lernangebote für ältere Menschen im Bereich der Digitalisierung brauchen wird."
Unabhängig aber von solchen Schwierigkeiten ist die Rolle von Großeltern eine wichtige Chance für Erfahrungen zwischen den Generationen. Die moderne Gesellschaft mit ihren stark getrennten Kulturformen bietet nur wenig andere Begegnungsmöglichkeiten für Angehörige verschiedener Altersgruppen. Deswegen ist für moderne Großeltern, die nicht wie Rotkäppchens Großmutter vor allem "krank und schwach" im Bett liegen, die Begegnung mit ihren Enkelkindern in den meisten Fällen eine einzigartige Chance, die sie so gut wie möglich nützen sollten.