Sie kamen vor zweitausend Jahren. So weit man das heute weiß, erreichten im Jahr 9 n. Chr. zum ersten Mal römische Soldaten das Gebiet, auf dem sich heute die Stadt Wien erstreckt. Von Süd-
osten vorrückend bot sich den Truppen des Tiberius eine Ebene dar, die im Westen von Hügeln eingefasst und im Osten vom einem großen Fluss begrenzt wurde. Der Platz wurde auf der einen Seite von den bewaldeten Anhöhen des Wienerwaldes geschützt und auf der anderen von der Donau, die das Gebiet mit ihren vielen Nebenarmen durchzog. Die Ebene zwischen Bergen und Fluss gliederte sich ganz natürlich in Terrassen und war der ideale Platz, um ein Lager zu errichten.

Zu jener Zeit war die Gegend von Kelten bewohnt, dem Stamm der Boier, um genau zu sein, die sich vor den vorrückenden Römern aus dem Gebiet des heutigen Deutschlands zurückgezogen hatten. Ungefähr hundert Jahre vor dem Eintreffen des römischen Militärs an der Donau hatten sie bereits eine Siedlung bei Bratislava errichtet und residierten auch auf dem Leopoldsberg am Nordrand des Wiener Beckens. Mancher Historiker meint, dass sich die spätere Bezeichnung "Böhmen" eigentlich von dem Wort "Boier" ableitet.

Computeranimation der Via Principalis des Lagers, ungefähr dort, wo heute die Wipplingerstraße verläuft.   - © Michael Klein/7reasons
Computeranimation der Via Principalis des Lagers, ungefähr dort, wo heute die Wipplingerstraße verläuft.   - © Michael Klein/7reasons

Für das römische Militär ging von den Kelten zu jener Zeit keinerlei Gefahr mehr aus. Nach großen militärischen Niederlagen gegen die Daker und Skordisker im Osten waren die Boier entscheidend geschwächt und nicht mehr in der Lage, den neuen Besatzern Widerstand entgegen zu setzen. Es sprach also alles dafür, an diesem idealen Platz einen der Außenposten des römischen Reiches zu errichten, das zu jener Zeit damit beschäftigt war, seine nördlichen Grenzen zu sichern. Wenig später sollte das Imperium ja seine maximale Ausdehnung erreichen, ein gewaltiges Terrain auch nach heutigen Vorstellungen: von Britannien bis Ägypten, von Spanien und Marokko bis zum heutigen Syrien.

Lebensstil des Südens

In seiner Glanzzeit unterhielt das römische Reich dreißig große Legionslager, alle nach einem einheitlichen Schema gebaut. Auf dem Gebiet des heutigen Wien wählte man einen von zwei Wasserläufen eingefassten Platz. Im Norden bot sich ganz natürlich ein Seitenarm der Donau an, der heutige Donaukanal. Im Westen wurde das Lager ungefähr dort, wo heute der Tiefe Graben in der Innenstadt verläuft, von einem zweiten Fluss begrenzt, der im Lauf der Geschichte verschiedene Namen hatte und heute Ottakringer Bach genannt wird. Dieser Bach war übrigens ein wildes Gewässer, das damals noch beim heutigen Concordia-Platz in die Donau mündete. Er verursachte dramatische Überschwemmungen im Westen von Wien und verwüstete auch einmal das römische Lager. Später, im Mittelalter, wurde er zum Wienfluss umgeleitet und nach und nach unter die Erde verbannt. Doch manchmal rebelliert er da unten allen Zähmungsmaßnahmen zum Trotz immer noch, zum Beispiel im Jahr 2010, als ein spektakuläres Hochwasser die Lerchenfelderstraße unter Wasser setzte.

Das Legionslager war im Jahr 97 n. Chr. fertiggestellt und wurde zunächst zur Basis der "Legio XIII Gemina", später, ab dem Jahr 114, der zehnten Legion. Es maß nach dem römischen Standardgrundriss 400 mal 500 Meter. Wenn man diesen Grundriss in groben Zügen abgehen möchte, dann könnte man am Stephansplatz beginnen, der außerhalb der Befestigung lag, dann über die Rotenturmstraße zum Schwedenplatz gehen, von dort zur Gonzagagasse, dann weiter zum Tiefen Graben und dann über die Naglergasse zurück zum Stephansplatz. Damit hätte man in etwa die Lage der einstigen Befestigungswälle abgegangen.

Rund um das Lager ersteckte sich die Lagervorstadt, "canabae legionis", die ebenfalls unter militärischer Kontrolle stand. Dort gab es Handwerksbetriebe, Wirtshäuser und Einrichtungen wie das Amphitheater, die öffentlichen Thermen oder den Hafen am Schwedenplatz. Dort lebten auch zivile Angehörige der Soldaten, die ja ihrerseits aus allen Teilen des Reiches kamen, ein buntes, internationales Völkergemisch, eine Migrationsbewegung nach dem Willen der römischen Verwaltung. Während im eigentlichen Lager bis zu 12.000 Menschen lebten, davon bis zu 6.000 Soldaten, betrug die Einwohnerzahl der Lagervorstadt in der Blütezeit von Vindobona bis zu 20.000 Menschen.
Neben dem Lager und der Lagervorstadt gab es südlich des Wienflusses auch noch eine zivile Siedlung. Sie erstreckte sich dort, wo heute der Rennweg verläuft, und wurde zeitweise von bis zu 10.000 Menschen bewohnt.

Ausgerichtet war die ganze Siedlung an der Limes-Straße, dem gigantischen Verkehrsprojekt des Imperiums, einer Verbindung zwischen den norddeutschen Meeresregionen und dem nördlichen Italien. Sie verlief entlang der Grenzen, sorgte für rasche Truppenbewegungen und ermöglichte weitläufige Handelsbeziehungen. Auf dem Gebiet des heutigen Wien ging die Limes-Straße von Klosterneuburg kommend über die Döblinger Hauptstraße und die Währinger Straße, erreichte auf dem Gebiet der Freyung das Militärlager, und scheint dann über den Michaelerplatz zum Rennweg geführt zu haben, und von dort weiter die Donau entlang nach Carnuntum, dem eigentlichen Zentrum der Provinz Pannonien.

Die schwarze Schicht

Man kann heute nur schwer ermessen, welche gewaltige zivilisatorische Erneuerung mit dem Erscheinen der Römer verbunden war. Schon allein die weithin sichtbaren Steintore des Lagers mit ihren kunstvollen Reliefs müssen die alte Stammbevölkerung in Erstaunen versetzt haben. Die Römer brachten in vielen Details den gehobenen Lebensstil des Mittelmeerraums mit, zum Beispiel kunstvolle Fußbodenheizungen oder öffentlich zugängliche Thermen. Es gab einen ausgedehnten Fernhandel, der so exotische Produkte wie spanisches Olivenöl, gallischen Wein oder orientalische Parfüms nach Vindobona brachte.

Was die Hygiene betraf, setzten die Römer Standards, die nach ihrem Abzug viele Jahrhunderte lang unerreicht blieben: Da sie über Gefahr von Seuchen Bescheid wussten, bauten sie Abwasserkanäle und öffentliche Latrinen mit Fließwasser. Das frische Wasser kam über eine große Wasserleitung, die siebzehn Kilometer lang war und von den Hängen es des Wienerwalds kam, vermutlich aus der Gegend von Kalksburg, wie die Archäologen heute annehmen, von wo aus man das Wasser mit leichtem Gefälle in die Festung fließen lassen konnte.

Fast dreihundert Jahre dauerte die römische Blütezeit zwischen Wienerwald und Donau. Am 9. August 378 verlor Kaiser Valens im fernen Adrianopel, heute Edirne in der Türkei, eine entscheidende Schlacht gegen die Goten, ein Ereignis, mit dem der Niedergang begann. 395 rückten von Norden her die Markomannen vor, Schlag auf Schlag
schwand die Macht des Imperiums. Bis zum Jahr 430 scheint sich die Militärverwaltung in Vindobona aufgelöst zu haben. In diese Zeit datieren die Archäologen die sogenannte "schwarze Schicht", eine Periode, in der sich in der Region keine Spuren von Besiedelung mehr finden lassen. Sie erstreckt sich über fast sechshundert Jahre, bis etwa zum Jahr 976, als mit der Errichtung der bayrischen Markgrafschaft Ostarrichi eine neue Geschichte begann.