Hic forum est. Hier ist das Forum. Populus properat. Das Volk eilt. Sed Marcus stat et circumspectat. Aber Marcus steht und schaut sich um. Das sind die ersten Übersetzungsübungen im "Felix"-Lateinbuch. Wenn sich Marcus heute in der Wiener Innenstadt umsehen würde, hätte er wahrscheinlich einige Mühe, sich zu orientieren. Hier wuselt es zwar nach wie vor, aber vom ehemaligen Legionslager Vindobona findet er keine Spur mehr. Oder doch? Vielleicht müsste Marcus nur etwas genauer hinsehen. Denn auch wenn die Römer vermutlich im fünften Jahrhundert nach Christus ihre Zelte hier abgebrochen haben, sind sie dennoch präsenter, als man glauben könnte.

Als erstes würde man den verwirrten Zeitreisenden wahrscheinlich zu den Ausgrabungen am Michaelerplatz schicken, die zwischen 1989 und 1991 freigelegt wurden. Dort erinnern Häuserreste an die römische Lagervorstadt, die die Angehörigen der Soldaten, Händler, Handwerker und Wirte besiedelten. Und auch vom Legionslager jenseits des Grabens ist allerhand übrig, nur nicht auf den ersten Blick. Besucht man das Römermuseum am Hohen Markt und nimmt die paar Stufen in den Keller, findet man sich zwischen imposanten Mauerresten von zwei Tribunenhäusern wieder. "Als man versucht hat, nach dem Zweiten Weltkrieg die Kanalisation wieder herzurichten, ist man auf diese Mauerreste gestoßen", sagt Michaela Kronberger vom Römermuseum.

Römische Fußbodenheizung

Man steht hier also zwischen knapp 2000 Jahre alten Ziegeln, Deckplatten und einem bis zu 25 Zentimeter hohen Estrich – und damit wahrscheinlich unmittelbar vor dem privaten Badebereich von einem der obersten Offiziere des Lagers. Üblicherweise deutet das System der sogenannten Hypokaustheizung, bei der heiße Luft von einem Heizbereich durch Boden und Wände geleitet wurde, auf frühere Zeiten hin. Doch eine Schicht aus lagigen Ziegeln und ypsilonförmige Heizkanäle machen die Überreste im vierten Jahrhundert, in der Spätantike und damit in der letzten der drei Bauphasen des Legionslagers fest. "Im vierten Jahrhundert transformierte sich das Legionslager, weil die Truppenstärke sich von etwa 6.000 auf 1.500 verringerte", erklärt Kronberger. In seiner Blütezeit war Vindobona dicht besiedelt – man geht von etwa 30.000 Menschen aus.

Die Legionslager waren im gesamten römischen Reich ungefähr gleich aufgebaut: viereckig. Für Vindobona bedeutet das, dass das Lager im Norden vom Donauufer, das in etwa dem heutigen Donaukanal entspricht, begrenzt wurde. Im Osten verlief das Flussbett des Wienflusses, im Westen der Ottakringer Bach und im Süden das, was man lange als Möhringbach bezeichnete, aber streng genommen gar kein Bach im eigentlichen Sinn war: "Das war die Grabenanlage des Legionslagers, die im Mittelalter weiter verwendet wurde. Möhring heißt so viel wie Abwasserkanal", sagt Kronberger. Heute ist von diesen geografisch günstigen Begrenzungen kaum mehr etwas zu sehen: Der Wienfluss wurde im 19. Jahrhundert umgeleitet und heute verläuft ungefähr an seiner Stelle die Rotenturmstraße. Von der Grabenanlage ist bloß der Name übrig geblieben und wo einst der Ottakringer Bach plätscherte, rauschen jetzt am Tiefen Graben die Motorengeräusche, dazwischen trappelt ab und zu ein Fiaker.

In der Naglergasse

Ist man sich dessen bewusst, geht man mit anderen Augen durch die Stadt. Steht man etwa auf der Hohen Brücke und blickt hinunter, ist es schon vorstellbar, dass sich hier einst nicht das emsige Treiben, sondern das Wasser entlangschob. Plötzlich macht auch die eigenartige Biegung Sinn, mit der die Naglergasse in den Heidenschuss mündet. "Hier kann man sehr schön die Ecke des Legionslagers erkennen", sagt Kronberger. Und sieht man ganz genau hin, erkennt man, dass sich just da, wo früher das Südtor des Lagers war und heute der Kohlmarkt in die Tuchlauben übergeht, der Bodenbelag von kleineren zu größeren Pflastersteinen ändert, obwohl das wahrscheinlich bloßer Zufall ist. Als bei einem Gasgebrechen im vorigen Jahr die Straße aufgegraben werden musste, stieß man sogar auf die Fundamentsteine des Torbogens. Auch wenn sich die Gebäude und Straßenbeläge längst weiterentwickelt haben, ist es in Wien noch möglich, auf den Pfaden der alten Römer zu wandeln – ein wenig jedenfalls. Denn obwohl das Antlitz der Innenstadt längst ein anderes ist, ihr Skelett ist erstaunlich standhaft. "Das Stadtlayout aus dieser Zeit hat sich gehalten: Die Herrengasse bis zur Währingerstraße ist im Grunde eine römische Straße, wie etwa auch die Kärntnerstraße", sagt Kronberger.

Ihre römische Geschichte ist also immer noch in die Stadt eingeschrieben, sogar in eines ihrer Wahrzeichen: In der rechten Seite des Riesentors vom Stephansdom ist ein römischer Grabstein verarbeitet, den man mit freiem Auge kaum erkennen kann. Wenn man weiß, wo man hinsehen und mit den Fingern entlangfahren muss, findet man aber tatsächlich etwas, das wie eingemeißelte Schriftzeichen anmutet. Und auch die Eckverquaderungen im Tiefgeschoss der Virgilkapelle sind Römersteine. Bauteile wurden häufig recycelt oder weiterverwendet, so lange sie brauchbar waren. Daher finden sich in der Stadtarchäologie auch in höheren Bodenschichten immer wieder Stücke aus älteren Zeiten.
Weil die Stadt selbst aber Lebensraum und nicht Museum ist, mussten viele Funde dem Fortschritt weichen oder wurden unter ihm begraben.

Ein riesiges Puzzle

Rund 150.000 Objekte, die seit 1895 ausgehoben wurden, beherbergt das Wien Museum, zu dem das Römermuseum gehört, in seiner archäologischen Sammlung. Und da kommen auch heute noch immer wieder neue dazu. Dabei kann man natürlich nicht nach Belieben und wissenschaftlicher Neugier große Flächen aufstemmen und umgraben, bis man Wien wieder bis zu Vindobona umgekrempelt hat, sondern ist auf Glück und Zufall angewiesen. Sind etwa Baustellen geplant, bei denen der Verdacht besteht, dass man im Zuge der Umbauarbeiten auf historisch Relevantes stoßen könnte, kommt erst einmal die Stadtarchäologie zum Zug, die wiederum zum Wien Museum gehört. Ihre Funde zählen also von Beginn an zum Museumsinventar. Große Grabungsflächen und lange Zeiträume hat man dabei natürlich nicht zur Verfügung. "Im alten Rathaus hat man einen Probeschacht gemacht. Da sind wir vier Meter in die Tiefe gegangen und haben einen römischen Kanal gefunden", erzählt Stadtarchäologe Martin Mosser von einem dieser glücklichen Zufallsfunde. "Man muss sich das wie ein riesiges Puzzle vorstellen, das seit 150 Jahren zusammengesetzt wird. Immer wieder bekommt man einen kleinen Aufschluss, den man zu älteren Grabungen in Bezug setzen kann."

Momentan gräbt Mosser mit seinem Team neben dem Wien Museum, das im Zuge des Projekts "Wien Museum Neu" saniert und ausgebaut werden soll. Fünf Meter nach unten haben die Archäologen zur Verfügung – so tief soll der Tiefspeicher des geplanten Kaffeehauses werden. Bevor die Bauarbeiten losgehen, arbeitet man sich hier seit Oktober Bodenschicht für Bodenschicht durch die Zeiten und ist bei viereinhalb Metern Tiefe etwa im 18. Jahrhundert angelangt. Steht man in der Baugrube, kann man die einzelnen Straßenniveaus und Schotterbänder genau nachvollziehen. Der Bagger hat bereits das Gröbste abgetragen. Wann er zum Einsatz kommen kann, ohne wertvolle Informationen mit auszuheben, ist eine Sache der individuellen Einschätzung. Mitte Dezember war man gerade dabei, einen Ziegelkanal aus dem 19. Jahrhundert mit kleinem Werkzeug freizulegen. Ein paar Tage später sollte er abgetragen werden. Aus einem Loch auf der Seite der Grube ragt eine Künette für Gaslaternen, die in Wien ab 1844 aufgestellt wurden. Tatsächlich fand man darin sogar noch die ersten Gasleitungen.

Bereits im Vorfeld hatte man recherchiert, dass in den 1920ern hier die erste Wiener Verkaufshalle stand, wo Automobile und andere Luxusartikel verkauft wurden. Aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage wurde sie bereits 1934 wieder abgerissen. Noch früher verlief da, wo heute das Wien Museum steht, der Wienfluss, der Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des Stadtbahnbaus reguliert und überwölbt wurde. Dabei fand man große Bauteile von römischen Grabdenkmälern. "Am Wienfluss im Bereich des Karlsplatzes gab es eine Gräberstraße, das wissen wir", sagt Mosser. Die Hoffnung, bei den Grabungen auf sie zu stoßen, war anfangs natürlich groß, schwindet aber mit jedem Zentimeter. Allerdings liegt die Krux vielleicht gar nicht so sehr in der Tiefe der Grabung, sondern an der Fläche, vermutet Mosser. Vielleicht sei man, um die Gräberstraße zu finden, hier zu nah am ehemaligen Wienfluss.

Am Rennweg

In der Innenstadt reicht oft schon ein halber Meter und man befindet sich bodentechnisch im Mittelalter, erzählt er. "Dann gibt es eine schwarze Schicht zwischen Mittelalter und Römerzeit, von der man nicht genau weiß, wie sie entstanden ist." Man vermutet, dass sie vielleicht mit der Abfallentsorgung im Mittelalter zu tun hat. Darunter liegt oft eine ockerfarbene Planierung, die durch die verfallenen Lehmziegel römischer Kasernenbauten entstanden ist. Da, wo früher das Legionslager war, findet man heute aber verhältnismäßig wenig. Bisher am ergiebigsten waren die Grabungen Am Hof und am Judenplatz, bei denen die drei Bauperioden des Legionslagers vom ersten bis zum fünften Jahrhundert am deutlichsten differenziert werden konnten. Hier spüre man eben das Militär: klare Schichten und Trennungen, alles scheint wie aufgeräumt. Ganz anders verhält es sich in der Zivilstadt, die sich da angesiedelt hat, wo heute der Rennweg verläuft und damals die Limesstraße entlanglief. "Wenn wir dort eine überdurchschnittlich große Grabung haben, transportieren wir bis zu 100 Bananenkisten voll mit Fundmaterial weg", erzählt Mosser. Man stößt auf Keramik, Lampen, Gefäße – Haushaltsgegenstände eben, aber auch auf Ziegel. "Römische Ziegel tragen oft einen Stempel." Und hergestellt wurden sie offenbar da, wo heute der 17. Bezirk ist. Denn 2012 fand man im Bereich der Steinergasse und Geblergasse Ziegelöfen und eine Trockenhalle, die zur Legionsziegelei gehörten.

Auch wenn am Karlsplatz die Grabbauten noch auf sich warten lassen, kleinere Spuren aus der Römerzeit hat man aber auch hier bereits gefunden: zwei oder drei kleine Stücke des Tafelgeschirrs Terra Sigilata und ein paar Scherben Gebrauchskeramik. Die Römer haben es also tatsächlich geschafft, in Wien vom Rennweg bis nach Hernals, von Inzersdorf bis Unterlaa, vom 19. Bezirk bis in die Innenstadt zu überdauern. Manchmal muss man tiefer graben, manchmal bloß genauer hinschauen. Was sich noch alles unter unseren Füßen verbirgt, davon können wir immer nur Bruchstücke erahnen, wie bei einem Puzzle eben. Einige Teile fügen sich nahtlos ineinander, andere sind auf ewig verschollen und manche tauchen nach und nach in der Sofaritze wieder auf. Doch wie beim Puzzeln ist wohl auch hier das Spannendste ohnehin das Suchen und Kniffeln selbst.