"Wiener Journal": Mir kommt vor, wer – wie ich – wissen will, wie man mutig ist, wendet sich am besten an Sie. Sie reisen, Sie halten internationale Vorträge, Sie sind die Stimme für Tausende Menschen, die unter Demenz leiden, und haben selbst zwei Formen der Demenz. Waren Sie immer schon so mutig wie jetzt?
Helga Rohra: Ich war eigentlich immer ein mutiger Mensch, eine Kämpferin. Das kommt aus meiner Biografie. Mein Sohn ist ein besonderes Kind, ein besonderer junger Mann: Seine Besonderheit nennt sich "Asperger". Ich habe mich von Anfang an für die Inklusion dieser Kinder eingesetzt, habe gemeinsam mit anderen Müttern und Vätern, die besondere Kinder hatten – Kinder mit Down-Syndrom oder anderen Besonderheiten – Gruppen gegründet. Wir waren die Kämpfer, um zu zeigen: Diese Kinder haben viele Potenziale! Und ich war immer politisch sehr engagiert, ich war im Stadtrat. Meine Biografie kommt mir auf meiner Demenzreise sehr zugute, denn es sind ja bestimmte Eigenschaften geblieben: der Wille, etwas ändern und Spuren hinterlassen zu wollen, zu kämpfen. Sie wissen ja, dass Aktivisten nicht immer gern gesehen werden, weil sie konstruktiv kritisch sind, und dass Aktivismus auch nicht honoriert wird: Die Überzeugung und die Passion müssen von innen kommen. Sie begleiten mich seit dreißig Jahren und sind auch in der Demenz geblieben.
Woran haben Sie damals gemerkt, dass Sie kämpfen müssen?
Mit drei Jahren hat man meinen Sohn diagnostiziert, und jetzt überlegen Sie mal, was war denn vor dreißig Jahren in Deutschland? Jedes Kind, das auffällig war, wurde in eine sogenannte Sonderschule gebracht. Alle auf einen Haufen – egal ob sie nicht sehen oder nicht hören konnten, das Down-Syndrom hatten, Autismus oder eben Asperger. Alle waren in einer Gruppe, weil man von ihnen dachte, sie sind schwach, man kann mit ihnen nichts anfangen, sie können ja nichts. Und da habe ich gewusst, wie auch die anderen Eltern: Unsere Kinder müssen individuell begleitet werden. Man muss ihre Ressourcen sehen. Und ja, all diese Kinder, die damals begleitet wurden, haben es sehr gut geschafft! Sie haben alle tolle Berufe. Das war schon damals für mich der Beweis, dass es sich lohnt, ressourcenorientiert zu denken und den Fokus nicht auf das zu lenken, was jemand nicht kann, sondern auf das, was jemand kann. Das gleiche gilt auch für die Menschen mit einer Demenzerkrankung! Ich habe auch gelernt, dass es wichtig ist, Menschen mit Demenz nicht alle in einen Topf zu werfen – es gibt 140 verschiedene Arten der Demenz, sie hat viele Ursachen, und sie kann in jedem Alter beginnen. Die Menschen haben Angst und deshalb ist es so wichtig, die Menschen zu zeigen, die sich mit Demenz wieder aufrichten, und auch ihre Unterstützer: Die Menschen denken ja, sie sind allein. Es geht niemand von sich aus in eine Selbsthilfegruppe. Warum? Am Anfang sind die Menschen sehr traurig. Sie lassen ja ein Leben hinter sich. Auch ich habe ein Leben hinter mir gelassen.
Das ist schwer zu akzeptieren. Wie ist es Ihnen gegangen, als Sie von Ihrer Demenz erfuhren?
Über ein Jahr habe ich eigentlich nur getrauert. Ich nannte das die Trauerphase. Und dann habe ich gesagt: Nein. Du kannst noch so viel! Du kannst zwar nicht mehr dolmetschen, deine Sprachen sind weg, du kannst nicht mehr am PC arbeiten, du kannst viele Sachen nicht mehr, aber was kannst du noch?
Was hat die Wende gebracht? Wie sind Sie aus dieser Trauer herausgekommen?
Meine Lebensphilosophie war immer: du schaffst es, du kannst es, du musst dir nur Zeit geben, und den Fortschritt sehen, wenn es mal aufwärts geht. Ich konnte noch sehr gut lesen. Schreiben und Sprechen waren meine Handicaps am Anfang. Also habe ich sehr viel gelesen. Aber meine Sprache war weg. Ich kann mich erinnern, da war ein Kongress in München, der hieß "Sprachtherapie bei Demenz und Schlaganfall". Ich habe mir gedacht, du hast jetzt Demenz, und du kannst nicht sprechen, also versuch hinzugehen. Du musst nur mutig sein, dich anzuziehen und hinzugehen. Das ist ein Schritt! Mein Mut hat sich ausgezahlt. Ich habe bei dem Kongress Jürgen Steiner von der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich getroffen. Er hatte Patienten wie mich schon behandelt. Ich fragte ihn, ob er mich auch behandeln würde, er sagte ja und so fuhr ich nach Zürich. Dafür musste ich wieder sehr mutig sein, denn ich hatte ja keine Orientierung. Ich wusste ja nicht einmal, wo ich bin. So durcheinander war ich. Ich habe monatelang mit ihm gearbeitet. Wir haben gemeinsam sogar eine DVD gemacht: "Demenz und Esprit". Nachdem ich zurückkam, habe ich gemeinsam mit meinem Neurologen eine Sprachtherapie für Menschen mit Demenz in Deutschland aufgebaut.
Das war ein großes Glück.
Ja, denn die Menschen können nach der Diagnose noch nicht sehen, was sie alles noch können. Sie fallen in das Loch. Und nicht nur das. Das nahe Umfeld – der Partner, die Kinder – beschützen einen sehr, sie nehmen einem alles ab – aus Liebe, aus Verantwortung. Manchmal braucht man diese Einbettung, aber man muss auch gefordert werden. Man muss spüren: Ich kann noch vieles tun, das mir Freude macht. Ich kann reisen, ich kann ein neues Hobby anfangen, ich kann Freunde treffen, aber man muss auf mich eingehen, denn jede Demenz ist ja anders.
Die Idee, dass sich Menschen mit Demenz ja selbst vertreten können, ist gar nicht selbstverständlich und unter anderem auf Sie zurückzuführen. Wie haben Sie es geschafft, sich durchzusetzen?
Ich würde heute jedem Patienten und jedem Angehörigen empfehlen, die Selbsthilfegruppen zu kontaktieren, denn diese Gruppen können einen psychisch wieder aufbauen. Wichtig ist, dass Angehörige und Patienten in getrennte Gruppen gehen. Ich war damals bei der Münchner Gruppe der Alzheimer Gesellschaft. Ich hatte das Glück, dass dort eine Sozialpädagogin war, die uns die Gruppen auch leiten ließ. Damit hat sie uns sehr aufgebaut. Damals gab es die erste Tagung, die hieß "Ich spreche für mich selbst", und da habe ich Menschen aus verschiedenen Ländern getroffen und gesehen: Woanders sind die ja richtig organisiert! Ich dachte mir, was woanders geht, geht in Deutschland auch. Ich habe dann einfach gefordert, dass ich in den Vorstand der Alzheimer Gesellschaft gewählt werde. Zuerst kam Kritik: "Ja, können Sie sich das denn überhaupt merken?" Aber ich kam in den Vorstand! Und von dort ging es nach Brüssel und inzwischen vertrete ich unsere Interessen in der WHO. Das ist fast eine Demenzkarriere.
Was machen Sie, wenn es Ihnen nicht so gut geht?
Ich mache Pause. Es gibt Tage, da haben Sie das Gefühl, sich an gar nichts erinnern zu können. Was habe ich gemacht? Habe ich heute überhaupt gefrühstückt? Aber da müssen Sie sanft mit sich umgehen, gütig sein und zu sich selbst sagen: "Du hast dich vielleicht zu sehr angestrengt." Dann gehe ich raus, ich trinke einen Cappuccino. Man muss sich an kleinen Sachen festhalten und nicht kritisch mit sich selbst sein. Das ist sehr wichtig. Man muss immer akzeptieren, wie es gegenwärtig ist. Und mein Engagement hilft mir: Ich bin sehr gut international vernetzt, ständig in Zoom-Meetings mit der ganzen Welt. Ich habe meine Facebook-Gruppe "trotzDEM", dort schreibe ich Beiträge auf Deutsch und auf Englisch. Das ist so wichtig für mich als Aufgabe, auch die Resonanz. Diese Resonanz gibt mir die Kraft, und man zeigt der Welt, wir haben Demenz, aber wir sind da. Auch in der Pandemie. Das sind Mutmach-Botschaften. Und wir brauchen das mehr denn je.
Was steht im Moment auf Ihrer politischen Agenda?
Konkret kämpfe ich dafür, dass wir in Deutschland in die Umsetzung der nationalen Demenzstrategie bis 2030 einbezogen werden. Die Strategie wurde verabschiedet, aber wir Menschen mit Demenz, die Therapeuten, die mit uns arbeiten, und auch unsere Angehörigen wurden nicht gefragt. Jetzt kämpfe ich dafür, dass es eine Plattform gibt, wo Menschen mit Demenz schon von der Planung weg an den Projekten beteiligt werden, die entstehen sollen. Wir wollen eingebunden sein und zwar auf Augenhöhe. Die Beteiligung von Menschen mit Demenz darf aber kein Fake sein, weil man gerade schnell Geld aus einem Europafonds braucht. Wichtig ist auch, dass die Gesunden mitmachen: Wenn die das nicht wollen oder nicht können, dann haben wir verspielt.
Werden Menschen mit Demenz mehr gehört als früher?
Eindeutig hat sich sehr viel getan in den letzten zehn Jahren, aber im Vergleich zu den führenden Ländern wie Schottland, Irland, Slowenien, Neuseeland oder Australien sind wir erst am Anfang. In diesen Ländern sitzen die Menschen in Gremien im Gesundheitsministerium, es wird nichts, was Demenz betrifft, ohne sie entschieden. Hier heißt es jetzt immer "demenzfreundlich". Aber ich habe einen anderen Begriff geprägt: demenzsensibel. Wissen Sie warum? Wenn ich demenzsensibel sage, sensibilisiere ich, indem die Menschen mit Demenz selbst auftreten. Auch die Gesunden können sich dann anders einsetzen für diese Inklusion. Es hat sich viel getan, aber ich erwarte, dass sich noch mehr tut. Vor allem erwarte ich, dass diese Expertise aus den führenden Ländern in den anderen Ländern gehört wird. In der Schweiz gibt es tolle Projekte, wie den ersten Bauernhof, wo Menschen mit Demenz arbeiten und leben, Hof Obergrüt. Die haben jetzt ein Kloster gekauft, Hof Rickenbach. Dort können Menschen mit Demenz auch Urlaub machen oder sich ganz einmieten. Das sind alles Privatinitiativen. Dafür braucht man Menschen, die die anderen motivieren. Die sagen, hey, das ist die Zukunft, die Menschen wollen nicht in die Heime, die wollen sich bewegen, die wollen was Sinnvolles tun. Die meisten sehen immer nur das Ende.
Kippt Ihre Passion nie in Frustration um?
Ich sage Ihnen etwas Wichtiges: Diese Momente gibt es bei mir nicht. Wenn ich sehe, dass alles zusammenbricht, dann stelle ich mich noch besser auf und sage zu mir "Helga, was machst du jetzt?" Du trinkst einen Gin Tonic. Es ist ja alles erlaubt – in Maßen. Du trinkst einen Gin Tonic, machst eine Meditation, überlegst dir eine Strategie. Ich baue mich selbst auf. Und ich habe ja auch Menschen, mit denen ich mich dann austausche. Jetzt in der Pandemie geht das alles über Zoom. Es ist wichtig, dass wir nicht in die Depression kippen, sondern wir müssen die Menschen da herausholen. Ich kann nicht sagen, wir machen nichts, wir warten, bis sich etwas ändert. Ja, wann ändert sich etwas? Und das ist in allen Bereichen so, das hat ja nicht nur mit Demenz zu tun. Also ich lasse mich nicht unterkriegen.

Welche Rolle spielt die Art und Weise, wie man über Demenz spricht, für Ihren Kampf?
Ich glaube, der Bereich der Demenz, der muss immer klar definiert werden. Ich darf nicht sagen: "Wir haben in Österreich 140.000 Demente." Das ist sehr negativ. Das ist entwürdigend. Es gibt 140.000 Menschen mit einer diagnostizierten Demenz. Manche meiner Freunde wollen nicht, dass das Wort Demenz benutzt wird. Ich denke aber, man muss dazu stehen, weil man nur für etwas kämpfen kann, zu dem man steht. Ich kann nicht sagen: "Ich kämpfe dafür, dass Menschen mit kognitiven Einschränkungen im Gesundheitsministerium in einem Advisory Board sitzen" – das wäre ja absurd! Ich kämpfe, dass der Mensch mit einer diagnostizierten Demenz gehört wird. Ich habe eine diagnostizierte Lewy-Body-Demenz und seit zwei Jahren eine Alzheimer-Diagnose auch noch. Und ich stehe dazu. Nur so kann ich mich stark machen.
Kommt die Angst vor Demenz eigentlich vor allem durch das Bild, das man sich davon macht?
Es kommt vor allem dadurch, wie die Krankheit gesehen wird. Die Medien zeigen ja, dass man dann eine Last für die Angehörigen ist, dass man nichts mehr kann und in ein Heim muss, wo die Mitarbeiter überlastet sind. Dann hat man nicht nur mit den Symptomen zu tun, sondern auch noch mit der Angst, und dann wird jede Erkrankung schlimmer. Da nehme ich auch die Ärzte in die Pflicht: Die schicken die Leute nach Hause und sagen ihnen, sie sollen spazieren gehen. Man braucht aber eine Perspektive. Es kommen ja auch immer mehr jüngere Leute mit Demenz, und den Leuten muss man immer Mut machen. Man muss ihnen sagen, es ist eine Reise. Man muss sagen, es gibt viele. Bitte nie sagen "Sie leidet an Demenz". Nein. Das ist falsch. Sie lebt mit einer Demenz. Wir sind keine Leidenden, wir sind keine Opfer, wir sind Sieger.