Gut 50 Meter hoch ist der Hafenkran, der an der Toten Weichsel Wache hält. Die Zeit, als er tonnenschwere Lasten hob, ist lange vorbei. Heute genießt der stählerne Koloss sein Gnadenbrot als Aussichtsplattform. Im Süden breitet sich die Altstadt Danzigs aus, mit ihren Dachgiebellandschaften und üppig verzierten Patrizierbauten eine der schönsten Europas. Im Norden stehen die riesigen Anlagen des größten polnischen Hafens, wo Dutzende Kräne mit dem Aussehen stählerner Giraffen die Skyline prägen. Und zu Füßen der Betrachter liegt ein Schauplatz der Weltgeschichte: der stillgelegte Kern der Danziger Werft, wo streikende Arbeiter vor mehr als 40 Jahren der Demokratiebewegung in Osteuropa Flügel verliehen.
Frust über massive Preiserhöhungen, Mangelwirtschaft und Repressionen waren es, die im August 1980 den Streik auf der damaligen Lenin-Werft vom Zaun brachen. Zweieinhalb Wochen stand es Spitz auf Knopf, dann hatten die Werktätigen dem kommunistischen Regime die Gründung der ersten freien Gewerkschaft im Ostblock abgetrotzt. Ihr Name: Solidarnosc. Ihr Anführer, der schnauzbärtige 36-jährige Elektriker Lech Walesa, sollte zehn Jahre später in den Präsidentenpalast einziehen. Diesem Freiheitskampf hat das Europäische Solidarnosc-Zentrum (ECS) am historischen Schauplatz des Ausstandes ein Denkmal gesetzt.
"Wege zur Freiheit"
"Das ECS bringt zum Ausdruck, dass man Freiheit nicht kaufen kann. Man muss sie sich erkämpfen", erklärt Stadtführer Florian Chyla auf einem Rundgang. Wer der demokratischen Aufbruchsstimmung der Ära nachspüren will, findet in Europa kaum einen besseren Ort. Mit seiner Fassade aus rostfarbenen Stahlplatten beschwört das monumentale Bauwerk Polens stolze Schiffsbaugeschichte herauf. Im Inneren zeichnet die Dauerausstellung "Wege zur Freiheit" das Ringen um mehr Mitspracherechte in Hunderten Originalexponaten, Installationen und multimedialen Inszenierungen nach. Über die Bildschirme flimmern Schlüsselmomente der Weltgeschichte, darunter jener vom 31. August 1980, als Lech Walsea am Tor zur Werft unter dem Jubel Tausender Kollegen die Gründung der Solidarnosc verkündete. Im nächsten Saal wird die TV-Ansprache von General Wojciech Jaruzelski eingespielt, der mit der Verhängung des Kriegsrechts das Demokratie-Experiment 16 Monate später einstampfen ließ. Eine Untergrunddruckerei zeigt, wie die nunmehr verbotene Solidarnosc Aufrufe unter das Volk brachte.
1989 folgte der zweite Anlauf zur Demokratie. Er mündete in Mehrparteienwahlen und in eine krachende Niederlage des KP-Regimes. Das Ergebnis sandte Schockwellen durch den moskauhörigen Teil Europas und sollte am 9. November den Fall der Berliner Mauer mit anstoßen. Auch den demokratischen Umbruch in den sozialistischen Bruderländern lässt das mit Hilfe der Europäischen Union finanzierte und 2014 eröffnete ECS Revue passieren.
Von der Wiege der Demokratie zum Szene-Treff
Dass sich Polen mit der politischen Wende nicht flugs in ein Schlaraffenland verwandelte, verdeutlicht ein Streifzug in der Nachbarschaft. Tausende Schiffsbauer verloren nach der Wende ihre Jobs. Die konkurrenzfähigen Sparten verlagerten ihre Produktion auf die nahe Insel Holm, während in der noch in preußischer Zeit errichteten "Kaiserlichen Werft" die Hämmer verklangen und die Essen erkalteten. Ein schickes Stadtviertel mit 3.500 Wohnungen, Hotels und Büros soll hier im kommenden Jahrzehnt aus dem Boden gestampft werden.

Moderne Kunst vor historischer Werftkulisse – das ergibt spannende Kontraste. Im Hintergrund die Insel Holm, wo der Schiffsbau heutzutage konzentriert ist.
- © Stefan SpathNoch entfalten allerdings Graffiti-übersäte Backsteinbauten, Relikte sozialistischer Industriearchitektur, grasüberwucherte Gleise und rostige Kräne ihren rauen Charme. Künstler, Kreative und urbane Pioniere haben von der Stadt einen Freibrief zur Zwischennutzung erhalten und erfüllen das über 70 Jahre öffentlich nicht zugängliche Gelände mit buntem Leben. Zu ihnen zählt Gracian, der Tickets für die Kranbesteigung verkauft und Fahrräder verleiht. "Die Stadt hat uns den Kran zur Verfügung gestellt. Mit den Eintrittsgeldern unterstützen wir Obdachlose", so erzählt der junge Mann.
Ausstellungen, Events und Konzerte locken am Wochenende Neugierige zuhauf an. Auf einer grasüberwucherten Brache stehen skurrile Schrottplastiken Spalier, zusammenmontiert aus Rohren, Blechen und weiterem Inventar der verwaisten Fabrikhallen. Nebenan präsentieren Keramik-Künstler ihre Werke unter freiem Himmel – und produzieren gleich neue in Ölfässern, die sie zu Brennöfen umgearbeitet haben. Ein originelles Mitbringsel dabei? Das muss überlegt werden – am besten bei einem Bier oder einem Caffè latte. Alles erhältlich ein paar Schritte weiter an einem Container, der ein neues Leben als Pop-Up-Café begonnen hat.
Zurück ins Zentrum geht es entlang der Mottlau auf einer Promenade, die mit ihren schicken Wohnanlagen bereits die Konturen des neuen Danzig erkennen lässt. Wohnraum am Wasser steht hoch im Kurs. Weiter stadteinwärts sind in alte Speicherhäuser Hotels und Restaurants eingezogen. Dazwischen haben Marinas Platz gefunden, die die wachsende Zahl der Freizeitboote beherbergen. All das zeigt, dass Danzig, der wechselhaften Werft-Geschichte zum Trotz, wirtschaftlich längst auf der Überholspur ist und wieder an seine Blütezeit im 16. und 17. Jahrhundert anknüpft.
Damals steuerten Frachter aus halb Europa den Ostseehafen an. Der Handel mit polnischem Getreide und Holz verschaffte der Kaufmanns-Elite Wohlstand – und den Stadtoberen etwas Autonomie zwischen Deutschen und Polen. Doch die Lage an der Schnittstelle zweier rivalisierender Mächte sollte sich im Zeitalter des Nationalismus als immer größere Belastung erweisen. Endgültig zwischen alle Stühle geriet Danzig vor 100 Jahren, als die Siegermächte des Ersten Weltkrieges die Stadt aus dem Deutschen Reich herauslösten und unter Aufsicht des Völkerbundes stellten. Die Konstruktion als "Freie Stadt" sollte auch Polen Zugang zu Hafen- und Werftanlagen ermöglichen, heizte aber die Spannungen an. Als Adolf Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach, ließ er als erstes die polnischen Einrichtungen Danzigs, darunter das Munitionsdepot auf der Halbinsel Westerplatte, unter Beschuss nehmen.

Zwischen Innenstadt und Werft erhebt sich das 2017 eröffnete Museum des Zweiten Weltkrieges – neben dem ECS ein weiteres Schmuckstück der polnischen Museumslandschaft.
- © Stefan SpathDer deutsche Überfall auf Polen bildete den Auftakt zu einer beispiellosen Tragödie. Vergegenwärtigt wird diese in einer Geschichtsstätte, die an Eindringlichkeit dem ECS in nichts nachsteht: dem 2017 eröffneten Museum des Zweiten Weltkrieges. Als 40 Meter hoher Keil, ummantelt mit roten Betonplatten, erhebt sich das Bauwerk zwischen Altstadt und Werftgelände. Unter der Erdoberfläche sind die Ausstellungsräume untergebracht, die von den Schrecken des Krieges vorwiegend aus der Perspektive der Zivilbevölkerung erzählen – Eindrücke, die vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine in beklemmender Weise an Aktualität gewonnen haben.
Symbol für Zerstörung – und Wiederaufbau
Riesige Fototapeten verdeutlichen das Ausmaß der Zerstörung, als der Krieg nach Danzig kam. Im März 1945 eroberte die russische Armee die Ostsee-Metropole und verwandelte sie in ein Trümmerfeld. Die zu mehr als 90 Prozent deutsche Bevölkerung floh oder wurde vertrieben. Aus Danzig wurde das polnische Gdansk.
Doch bald schon sollte aus einem Symbol für Kriegszerstörung auch eines für den Wiederaufbau werden. 1948 entschied die Regierung in Warschau, das Herz der Stadt wieder erstehen zu lassen – diesmal als Polens "Fenster zur Welt". Straßenzug um Straßenzug wuchs aus Schutt und Asche empor, mitsamt den Wahrzeichen wie der aus Millionen Backsteinen errichteten Marienkirche und dem mittelalterlichen Krantor. Ein unglaublicher Kraftakt, der Jahrzehnte dauerte. Der Gesamteindruck war so stimmig, dass sich selbst deutsche Danziger auf Besuch in der verlorengegangenen Heimat fragten, ob sie vom Untergang nur geträumt hatten.
Spaziergang durch die Jahrhunderte
Heute gilt die historische Rechtstadt als eine der schönsten Flaniermeilen Europas. Dicht an dicht reihen sich in der Langgasse und auf dem Langen Markt prachtvolle Kaufmannshäuser aneinander, viele davon im Stil der niederländischen Renaissance und des Barocks. Üppig verziert mit Säulen, Stuck und Skulpturen die Schauseiten zur Straße hin; den Himmel konturieren bogen- und treppenförmige, spitze und flache Giebel. Stilmäßig geriet manchmal etwas leicht durcheinander. Und mit Blick auf die Fassade des renaissancezeitlichen Ferberhauses erklärt Danzig-Guide Florian Chyla eine besondere Facette: "Ursprünglich zeigten die Figuren Gesichter von Danziger Patriziern. Aber im Zuge des Wiederaufbaus haben sich auch einige Restauratoren in Stein verewigt."
Das üppige Tourenangebot lässt Besuchern die Qual der Wahl. Ein kommentierter Bummel durch das alte Danzig? Danzig und sein deutsches Erbe? Oder Danzig auf den Spuren seiner selbstbewussten Arbeiter? Ihre Vielfalt und ihre Weltoffenheit haben der Stadt in den vergangenen Jahren einen regelrechten Besucheransturm beschert. Bereits überwunden erscheint der Knick, den die Corona-Pandemie verursachte. "Eineinhalb Jahre haben wir Däumchen gedreht", erzählt ein Geschäftsinhaber in der für ihre Bernsteinboutiquen bekannten Frauengasse. Doch seit im Herbst 2021 wieder die ersten Busreisegruppen kamen, gehe es aufwärts.
Der Trubel in der Altstadt behagt nicht allen. Doch die gut 460.000 Einwohner zählende Perle der Ostsee hält mit ihren ungeschliffenen Ecken und spektakulären Museen genügend Alternativen für ein Programm abseits der Massen bereit. Und wer den Kopf ganz auslüften will, macht es wie die Danziger selbst, tingelt mit der Straßenbahn ans Meer und lässt sich am Strand oder auf einem Spaziergang ins Seebad Sopot die frische Meeresbrise um die Nase wehen.
Die Danzig-Recherche wurde z.T. unterstützt von Ruefa.