Wenn der Railjet aus Wien am Ortsrand von Tarvis stoppt, ist den Alpen schon beinahe der Zahn gezogen. Rasch die Fahrräder ausgeladen, dann eine erste Orientierung. Im Rücken begrenzt eine Phalanx von Kalkklötzen und messerscharfen Graten den Blick. In der Gegenrichtung weist ein enger Einschnitt den Weg in Richtung Sonne und Freiheit: das Kanaltal, das sich zwischen Karnische Alpen, Julische Alpen und Karawanken zwängt. Hier verläuft eine der großen europäischen Expressrouten an die Adria – und seit einigen Jahren wird sie ergänzt um einen europäischen Radler-Highway der Extraklasse.

"Ciclovia Alpe Adria" steht auf den Schildern zu lesen. Etwa 200 Kilometer beträgt die Entfernung an den Strand von Grado. Die Tour ist maßgeschneidert für Genussradler und Familien, sind doch ihre klassischen Ausgangspunkte Villach bzw. Tarvis, wenn es 300 Höhenmeter weniger sein dürfen, perfekt an das Bahnnetz angebunden. Einmal in Italien angelangt, rollt man gemütlich und stressfrei dem Meer entgegen.

Neue Wege im Dreiländereck

Zum Auftakt der Tour leuchten die Wiesen noch in sattem Grün und es duftet nach Holunder, Heu und Pinienharz. Kühle liegt in der Luft. Kaum hat man sich in Tarvis in einem Café niedergelassen, so ist die Ankunft im Land, wo die Zitronen blühen, auch symbolisch festgezurrt. Noch vor zwei Generationen galt der Grenzort als ein kleines Modemekka. Die Aussicht auf schicke Jeans und günstige Klamotten lockte Tausende Käufer aus Kärnten und weit darüber hinaus an. Das änderte sich, als Österreich mit dem EU-Beitritt 1995 im Europa des grenzenlosen Warenverkehrs angekommen war. Slowenien folgte 2004. Für Tarvis und das Kanaltal kam eine Abwärtsspirale in Gang, die sich durch den Abbau der Grenzkon-trollen im Dreiländereck beschleunigte. Zöllner und Carabinieri braucht es keine mehr. Und die Beschleunigung der Verkehrswege trug ein Weiteres dazu bei, dass der Zipfel im Nordosten des Stiefels allmählich von der touristischen Landkarte rutschte.

Auf alten Bahnspuren: So macht Radfahren Spaß!

Zur Belebung der Region wurde 2013 mit reichlichen Geldern aus EU-Fördertöpfen die alte, 1995 stillgelegte Trasse der Pontafel-Bahn (Pontebbana) in einen Radweg mit allen Schikanen umgewandelt. Im Norden schließt der österreichische Teil des Alpe-Adria-Radwegs an, der durch Salzburg und Kärnten verläuft. So ergibt sich für fitte Zeitgenossen ein gesamt 410 Kilometer langes Band zwischen Bergen und Meer. Der Start zur Italien-Etappe ist das Prunkstück dieser Transalp. Eiserne Bogenbrücken, schummrig-kühle Tunnel und Backstein-Viadukte aus der Dampfross-Ära geben pompöses Geleit durch das Kanaltal und das Eisental.

Eisenbahn-Brücken aus der Dampfross-Ära geben heute Radfahrern pompöses Geleit. 
- © Stefan Spath
Eisenbahn-Brücken aus der Dampfross-Ära geben heute Radfahrern pompöses Geleit. - © Stefan Spath

Historische Spuren im Dreiländereck

Die bestens asphaltierte und angenehm breite Trasse erlaubt Familien ein entspanntes Dahinradeln und lässt den Sportskanonen genug Platz zum Überholen. Schattige Rastplätze rücken landschaftliche Filetstücke in den Blick. Mehrsprachig abgefasste Schautafeln machen auf Besonderheiten aufmerksam. Pedalritter sollten sich die 200 Kilometer lange Italien-Etappe auf mindestens vier Happen aufteilen. Wo sich der romanische, der slawische und der deutschsprachige Kulturkreis überlappen, sind Reminiszenzen ans alte Mitteleuropa allgegenwärtig. In Pontebba markiert bis heute eine steinerne Säule die Grenze des einstigen Habsburgerreichs. "Kaiserthum Oesterreich – Herzogthum Kärnten" steht darauf eingemeißelt. 1919 kam das Kanaltal zu Italien. 20 Jahre später wanderten viele deutschsprechende Kanaltaler aus. Über die Generationen ging der polyglotte Charakter der Region allmählich verloren.

Wer tiefer in die Vergangenheit eintauchen will, ist in Chiusaforte goldrichtig. Das alte Bahnhofsgebäude hat als Radlertreff einen neuen Anlauf genommen. Man stärkt sich unter dem Vordach mit einem panino al prosciutto oder einer Portion Pasta. Und wer etwas Zeit erübrigen kann, bucht bei Mario Saccomano eine Tour zu den versteckten Sehenswürdigkeiten der Region. Der Bikeguide begleitet Geschichtsfreunde auf Almen und zu alten Forts, die dieses strategisch wichtige Durchzugstal bewachten und längst wieder in Stein versinken. "Davon haben wir eine Menge", erzählt Saccomano, "aus der napoleonischen Zeit, viele aus dem Ersten Weltkrieg, und manche wie Fort Beisner hatten sogar bis nach Ende des Kalten Krieges eine Besatzung."

Letzter Gruß aus den Alpen

Die Ciclovia Alpe Adria arbeitet sich durch eine Landschaft von wilder Schönheit voran. Schleierförmige Rinnsale stürzen von den Gipfeln und werden von der Fella aufgefangen. Mancherorts begegnen einem die auf Stelzen geführten Trassen der Autostrada A23 sowie der Hochgeschwindigkeitsbahn, die seit ihrem Neubau vornehmlich durch das Berginnere rauscht. Die Kalkmassive schrumpfen zu grünen Buckeln, und plötzlich klingen die Alpen mit einem Tusch aus. Von Nordwesten rollt der Tagliamento heran und nimmt die Fella in einem Meer aus leuchtendem Schotter in sich auf.

Ein erfrischender Stopp am Tagliamento. 
- © Stefan Spath

Ein erfrischender Stopp am Tagliamento.

- © Stefan Spath

Zur Schneeschmelze ein kilometerbreites Monster, das an den Ufern nagt und Baumstämme mit sich reißt, fächert sich der Wildfluss im Sommer in ein Geflecht von türkisfarbenen Haupt- und Nebenarmen auf und stromert unschlüssig dahin. Wenn die Sonne vom Himmel brennt, lautet die Devise: Nichts wie hinein!

Phönix aus der Asche

Gut besuchte Cafés, kleine Geschäfte und knatternde Vespas: Venzone präsentiert sich als erster Ort auf der Ciclovia, der nicht im Dornröschenschlaf versunken ist. An die Naturkatastrophe, die Venzones heutigen Ruf als Dorfschönheit begründete, erinnert sich wohl nur noch die Boomer-Generation unter den Radtouristen. Im Mai 1976 riss ein Erdbeben im Friaul beinahe tausend Menschen in den Tod und zerstörte Tausende Gebäude. Venzones Dom illustriert, wie der 2.000-Einwohner-Ort zurück in die Zukunft fand. Helfer sammelten die Trümmerteile ein und fügten sie in einem 20 Jahre währenden Puzzle wieder zusammen. Unverputzte Stellen zeigen, was an Bausubstanz ersetzt werden musste. Wer die Stadtmauer entlangspaziert, dem springen die Flickstellen zwischen "alt" und "neu" allerorts ins Auge.

Kulinarisch wird’s immer verlockender

Von Trattorien zu Osterien und Slow-Food-Läden zu Märkten zieht sich nun auch eine Genusspur nach Süden. Aus der örtlichen Molkerei kommen Käsespezialitäten wie der würzige Montasio, die sich gut für jedes Picknick machen. Aus dem nahen San Daniele del Friuli riecht schon der berühmte luftgetrocknete Schinken herüber. Und abgerundet wird die Jause am Wegesrand mit herrlichen Weißweinen aus dem Hinterland von Udine.

Udine – die Serenissima lässt grüßen

Die 100.000-Einwohner-Stadt Udine ist das urbane Aushängeschild der Tour. Ein Ensemble, als hätte es ein Sturm aus dem 130 Kilometer entfernten Venedig herübergeweht, erwartet die Pedalritter im Herzen der Stadt. Elegante Arkaden, muskelbepackte Monumentalstatuen, ein Brunnen und ein Uhrturm gliedern die Piazza della Libertà. Mit ihren Marmorbändern in Rosa und Weiß präsentiert sich die im gotisch-venezianischen Stil errichtete Loggia del Lionello wie eine kostbare Praline. Auf einer Säule thronend nimmt einen der Markus-Löwe ins Visier – er macht klar, wem für diese Extravaganz Huldigung zu entrichten ist.

Palmanova – Stadt vom Reißbrett

Venedigs Dogen haben dem Nordosten Italiens ihren Stempel aufgedrückt. 30 Kilometer weiter südlich ließen sie Ende des 16. Jahrhunderts sogar eine "Idealstadt" aus dem Boden stampfen: Palmanova. Mit vorspringenden Bastionen, mächtigen Erdwällen und einem System radialer Ausfallstraßen richtete sich der Bauplan allein nach der Prämisse aus, die Türken von einem Vorstoß auf die Serenissima abzuschrecken. Das gelang, aber damals wie heute lässt die militärisch inspirierte Architektur kaum Gemütlichkeit aufkommen. In der Mitte der neunzackigen Stadt gähnt ein zwei Fußballfelder großes Loch – die anno dazumal als Exerzierfeld genutzte Piazza Grande. Nur wenn montags der Markt in Szene geht, kommt man sich im Zentrum der 5.000-Einwohner-Stadt nicht wie eine Ameise vor.

Wimmelbilder aus der Antike

An Steigungen ist längst alles abgearbeitet, die Mühen der Ebene liegen in der Hitze, die von Kilometer zu Kilometer drückender wird. Nur langsam kommt der Glockenturm näher, der durch ein Mosaik aus Äckern, Feldern und Alleen den Weg zur nächsten Weltkulturerbe-Stadt weist: Aquileia, in Roms Sturm- und-Drang-Phase die wichtigste Drehscheibe zu den Donauprovinzen. In der Spätantike nahm von hier aus die Christianisierung im Alpenraum Dampf auf. Nur in der romanischen Basilika klingt Aquileias einstige Größe nach. Byzantinische Fresken und perlenverzierte Reliquien verherrlichen vergessene Märtyrer wie den Hl. Hermagoras, dem das kärntnerische Hermagor seinen Namen verdankt.

Die Fußbodenmosaike aus dem 4. Jahrhundert in Aquileia zeigen unter anderem Tintenfische und Langusten. 
- © Stefan Spath

Die Fußbodenmosaike aus dem 4. Jahrhundert in Aquileia zeigen unter anderem Tintenfische und Langusten.

- © Stefan Spath

Doch alles verblasst vor der Pracht der Fußbodenmosaiken aus dem 4. Jahrhundert, die sich von Glasstegen aus in Augenschein nehmen lassen. Hier schälen sich Tintenfische und Langusten aus einem Meer Abertausender Steinchen heraus, dort zeigt eine Szene ein zähnefletschendes Seeungeheuer, wie es gerade den Propheten Jonas ausspuckt. Der Name des Schöpfers? Längst vergessen. "Man nennt ihn den ‚Meister der Meere‘", erfährt man auf einer Führung.

Im Hochmittelalter erlebte Aquileia noch einmal eine Blütezeit, bevor ihr die Nachbarn endgültig den Rang abliefen. Darunter die alte Rivalin Grado. Auf zum Endspurt! Noch zehn Kilometer im Takt der Pedale, schon schiebt eine Brise den Geruch des Meeres heran. Ein Damm geleitet die Radfahrer über die Lagune in die Inselstadt. Mit seinem historischen Kern und seinem Fischereihafen hat Grado den Seebädern der Umgebung einiges an Charme und Natürlichkeit voraus. Doch der erste Weg führt an den Strand, Drahtesel geparkt und ab ins Wasser. Bis einem die Adria bis zur Brust steht, muss man allerdings weit hinauswaten – aber das ist für eine Tour, bei der der Weg das Ziel ist, einfach eine perfekte Schlusspointe.

In Grado angelangt, kann man einen prachtvollen Sonnenuntergang genießen. 
- © Stefan Spath

In Grado angelangt, kann man einen prachtvollen Sonnenuntergang genießen.

- © Stefan Spath