Dieser Sonnenuntergang ist traumhaft, eigentlich: Wie das wolkenlose Dunkelblau des Himmels auf das wellige Blau des Aralsees trifft. Wie die untergehende Sonne dazwischen präzise einen rot-goldenen Streifen über den Horizont zieht. Ganz so, als würde vom See ein geheimnisvolles Glimmen ausgehen.
Bei aller Schönheit ist dieses Panorama allerdings trügerisch. Denn obwohl das Seeufer geradezu idyllisch wirken kann, setzt sich auch in diesem Moment vor aller Augen eine gigantische Umweltkatastrophe fort: ein von Menschen gemachter Öko-Alptraum, der sich schleichend, aber mit trotzdem großer Wucht, entwickelte. Denn einst zählte der See, der in Usbekistan und Kasachstan liegt, zu den größten Binnengewässern der Welt.
Ende der 1950er, als der zentralasiatische Vielvölkerstaat noch zur Sowjetunion gehörte, kam Stalin auf die Idee, Baumwolle in Usbekistan anzubauen. Dafür wurde Wasser gebraucht. Zu viel Wasser. Und weil über die beiden Flüsse Amudarja und Syrdarja nicht mehr genug Wasser zufließen konnte, begann der See zu schrumpfen, teilte sich im Zuge der Austrocknung und wird bis heute – anders als der Aral-Rest auf kasachischer Seite – in Usbekistan immer noch von Jahr zu Jahr kleiner.
Nur mehr für Touristen
Am Ufer lebt daher heutzutage niemand mehr. Nur wenige Touristen, die abenteuerfreudig genug sind, finden in diese hundsverlassene Gegend. Schließlich dauert es fast einen Tag, ans Ufer zu gelangen – und wer den fast 400 Kilometer langen Trip auf sich nimmt, muss sich auf einen wilden Ritt in einem Jeep einstellen. Ab einem bestimmten Punkt gibt es schließlich keine Straßen mehr. Dann geht es einfach offroad weiter. Quersteppenein. Mohammed, der Fahrer, umklammert mit seinen großen Händen fest das Lenkrad und brettert zu seiner Italo-Pop-Playlist stoisch über den staubigen Steppenboden. Wo jeder andere verloren wäre, erkennt er die vagen Pfade und die richtige Piste. Hochkonzentriert ist er dabei. Nur manchmal schaut er in den Rückspiegel, erzählt kurz etwas und wenn er lacht, blitzt kurz sein Goldzahn auf.
Erst am Abend trifft der Jeep schließlich im Jurtencamp in Ufer-Nähe ein. Aus der Distanz des Touristen-Camps betrachtet, wirkt der See vor allem wegen der sommerlichen Hitze einladend zum Baden. Am nächsten Morgen, aus nächster Ufernähe betrachtet, sieht das schon wieder ganz anders aus. Wer kühn oder wahrscheinlich wahnsinnig genug ist, geht trotzdem rein. Zunächst muss man mühselig durch dicken, festen, stinkenden, schwarzen Schlamm stapfen, bis man tief genug im Wasser ist. Wenn man sich dann ins nasse Ungewisse fallen lässt, merkt man: Wie im Toten Meer treibt man an der Oberfläche. Denn durch die Austrocknung ist die Salzkonzentration des Aralsees um ein Vielfaches gestiegen, was für ein Fischsterben sorgte.
Nach einer Fahrt entlang des Ufers und einer Wanderung durch eine canyonartige Landschaft geht es zurück mit dem Jeep bis in die ehemalige Hafenstadt Muynak: Stunden über Stunden wild rumpelnd über den früheren Grund des Sees. Karg, staubig, trocken. Allerdings befindet sich dort nicht nur Wüstensand, der vom Wind aufgewirbelt wird, sondern auch Salz und chemische Rückstände von Herbiziden, die einst im Wasser landeten und über höhere Schichten der Atmosphäre sogar bis in die Arktis getragen wurden.
Ein Museum schweigt nicht
Die Austrocknung des Aralsees und die Auswirkungen durch schädlichen Salzstaub und schlechte Wasserversorgung werden überraschenderweise im kleinen ökologischen Museum in Muynak ganz offen zum Thema gemacht. Beispielsweise auch, dass der Anteil an Atemwegserkrankungen und Krankheiten wie Speiseröhrenkrebs in der Bevölkerung dieser Gegend in den vergangenen Jahrzehnten spürbar gestiegen ist. Die Stadt selbst war dabei in einem desolaten Zustand. Erst nachdem der usbekische Präsident 2018 persönlich auf Visite kam, änderte sich etwas. Seitdem wird Muynak herausgeputzt.
Auch die aufgehübschte Seepromenade von einst existiert sogar noch. Kaum vorstellbar, dass an dieser Stelle bis in die späten 70er Wasser an die Mauer schwappte, in einer Fischfabrik Millionen Konserven produziert wurden und viele Familien von der Fischerei lebten. Heute ist die usbekische Kleinstadt, die einst als Insel im See ein beliebtes Ziel für Urlauber war, vom Sand umzingelt. Einige der ehemaligen Fischerboote liegen bis heute im staubigen Boden vor der Promenade. Langsam rosten sie vor sich hin und sind in diesem denkbar größten Kontrast zu einem so faszinierenden wie morbiden Mahnmal geworden.

Hinter den Toren der Altstadt von Khiva beginnt eine Zeitreise.
- © Sascha RettigDie meisten Touristen in Usbekistan bekommen die Aral-Katastrophe nicht so direkt mit. Sie erfüllen sich vielmehr den Reise-Traum aus 1001er Nacht, der knapp 400 Kilometer und eine über sechstündige Autofahrt von Muynak entfernt geträumt werden kann. Dieser Traum beginnt, sobald der Wagen durch ein Tor in den wuchtigen Stadtmauern von Khiva fährt und den Stadtkern erreicht. Gäbe es nicht die zahlreichen Souvenirstände, hätte man gleich den Eindruck, ein paar Jahrhunderte zurückchauffiert worden zu sein.
In Khiva beginnt der orientalische Zauber
Für viele Reisende beginnt die Tour durch das orientalische Usbekistan genau hier. In Khiva sehen sie die erste Koranschule, eine sogenannte Medrese. Die erste prachtvolle Moschee. Den ersten Palast – sogar mit großem Harem. Und sind ganz hin und weg von diesem Unesco-Weltkulturerbe mit all den kunstvollen Verzierungen und den Kacheln.
Es leben noch Einheimische in der restaurierten Altstadt. Vor allem aber werden die Gassen von Touristen durchströmt. Entsprechend reihen sich dort daher Geschäfte und Stände für Souvenirs, Schals, Schmuck und Puppen aneinander. Dazwischen Museen und usbekische Restaurants, wo mit Vorliebe das Nationalgericht Plow, ein schweres Pilau-Reisgericht mit Fleisch und Gemüse, auf den Tisch kommt. Man kann die lustigen Schafmützen anprobieren, die aussehen wie übergroße Perücken. Ein paar Gassen weiter werden auf traditionelle Weise Teppiche geknüpft.
Die ungewöhnliche Djuma-Moschee, in deren Innenhof auch heute noch über 200 reich verzierte, teils aus dem 10. Jahrhundert stammende Holzsäulen stehen, wirkt da wie ein ruhiger Rückzugsort – genau wie die Teestube "Farouh". Nur wenige Gäste haben gerade den Weg in den schattigen Hinterhof gefunden, um ein Chai-Päuschen einzulegen und beim Brotbacken zuzuschauen. Ganz traditionell werden die Fladen erst gestempelt, bevor sie zum Backen ans Innere des Lehmofens geklatscht werden.
Hoch oben auf dem Minarett Islam Khodja kann man sich mit anderen um einen Blick über die Stadt drängeln. Oder, noch viel besser, auf einer der vielen Dachterrassen der untergehenden Sonne bei ihren Farbspielen zuschauen. Die Altstadt mit ihren Kuppeln, Medresen, Minaretten und Moscheen erscheint zu dieser Tageszeit wie ein von der Gegenwart umzingelter Traum, der in intensiven Farben geträumt wird. Die Kacheln der Minarette in Blau, Türkis und Grün strahlen dann im warmen Sonnenlicht aus den lehmigen Wüstenfarbtönen dieses Open-Air-Museums heraus, bis es schließlich ganz schnell dunkel wird und all die angestrahlten Baudenkmäler aus dem Nachthimmel herausleuchten.
Fluch und Segen
Auch Buchara, die nächste Stadt auf der Route, spiegelt den Reichtum an außergewöhnlichen historischen Bauten wider, der für Usbekistan Fluch und Segen zugleich ist. Fluch, weil damit die Mammutaufgabe der Erhaltung einhergeht. Segen, weil die Städte dadurch attraktiv werden und der Tourismus boomt. Bereits zu Sowjetzeiten wurde mit der aufwendigen Restaurierung zahlreicher Objekte begonnen und sie wird bis heute – mit dem Hang zur patinabefreiten, überpolierten Rekonstruktion – fortgesetzt.
Buchara ist deutlich größer als Khiva, eine über 2.500 Jahre alte Oasenstadt und einst eines der blühenden Zentren der Seidenstraße, jener alten Handelsroute von China nach Europa, die bis heute die Vorstellungskraft von Reisenden befeuert. Im Zentrum kann man sich zwischen den Spuren dieser Vergangenheit treiben lassen: zwischen Basaren und Lehmbauten, Moscheen und Mausoleen, der Ark-Festung aus dem 5. Jahrhundert und dem prachtvollen Poi-Kalon-Ensemble mit dem Kalon-Minarett aus dem 12. Jahrhundert. Taucht man intensiver ein, wird die Stadtführung irgendwann zu einem Taumel aus Erklärungen zu Kultur, Baustilen und Religion, zu Herrschern und bewegter Historie. In diesem Fall – und nicht nur in diesem – landet man mit großer Wahrscheinlichkeit am Labi-Chaus-Teich, einem der einst zahlreichen Bassins für die Wasserversorgung der Stadt. Dort kann man in einem der Teehäuser oder Restaurants verschnaufen und Stunden damit zubringen, bei einem Tee zum Plätschern des Springbrunnens und der aufgedrehten Musik das lebendige Geschehen zu beobachten.

Abendliches Strahlen des Registan-Platzes in Samarkand, einem der schönsten Plätze der Welt.
- © Sascha RettigBis heute ist Usbekistan ein Vielvölkerstaat, wo neben Usbeken unter anderem Tadschiken, Karakalpaken, Kasachen leben – und Russen. Bis zur Unabhängigkeit 1991 gehörte das Land schließlich zur Sowjetunion. In Samarkand, der letzten Station der Reise, ist diese russische Herrschaft, die 1868 begann, noch in einem ganzen Stadtteil sichtbar. Orientalisches Flair hat diese ansonsten moderne Großstadt mit großen Wohnblöcken und breiten Straßen kaum zu bieten – auf den ersten Blick zumindest. Das vergisst man allerdings schnell wieder, sobald man die historischen Schätze ansteuert, die noch einmal Jahrhunderte älter sind – wie die über neun Jahrhunderte immer weiter ausgebaute Gräberstraße Shohizinda mit ihren reich verzierten Mausoleen.
Nationalheld und Namensgeber
Der 1405 gestorbene Eroberer Amir Timur, der für das neue Usbekistan zum Nationalhelden erkoren wurde und entsprechend mit zahlreichen Denkmälern zelebriert wird, prägte diese Stadt. Im nach ihm benannten Timuridenstil ließ er in der Hauptstadt seines zusammeneroberten Riesenreiches einige Prachtbauten errichten, etwa die nach seiner Lieblingsfrau benannte Moschee Bibi Khanum. Timur selbst liegt zudem im prächtigen Gur-Emir-Mausoleum unter einer doppelschaligen, gerippten Kuppel begraben.
Das Herzstück Samarkands ist allerdings der monumentale Registan-Platz mit seinem Ensemble aus drei (keramik-)verzierten Medresen mit mächtigen Portalen. Am Abend findet dort eine Lichtshow statt. Und doch ist dieser Höhepunkt der Usbekistan-Reise am schönsten, am eindrucksvollsten, wenn er ganz einfach im hellen Schein des warmen Lichts unter dem Nachthimmel leuchtet. Augen auf und diesen orientalischen Traum aus einer längst vergangenen Zeit träumen, denkt man sich einmal mehr. Denn schon mit der Abreise über die neue Schnellzugtrasse nach Taschkent ist er viel zu schnell wieder ausgeträumt.