Dreißig Kilometer nordwestlich von Groningen im Hafen Lauwersoog machen Skipper auf der "Willem Jacob" klar Schiff zum Auslaufen. Vor 50 Jahren wurde hier die Nordsee nach einer verheerenden Sturmflut eingedeicht und als Binnensee sich selbst überlassen. Ebbe, Flut und Priele verschwanden. Aus schlickigen Sümpfen, bewaldeten Inseln, wogendem Schilf und wilden Orchideenwiesen entstand der Nationalpark Lauwersmeer. Was Menschen ausgedacht haben, brachte die Natur zu Ende.
Auf ins Wattenmeer
Eine kleine Reisegruppe hievt ihr Gepäck an Bord des umgebauten, 26 Meter langen Ein-Mast-Klippers aus dem Jahr 1889. Zwei Damen vom Tourismusbüro schleppen Bündel mit Bettwäsche heran. Eine enge Luke mit steiler, schmaler Holztreppe führt hinab in den als Wohnzimmer eingerichteten ehemaligen Frachtraum. "Heel mooi", was so viel wie "sehr schön" heißt, kommentiert ein Gast das variabel einteilbare Interieur. Wo früher Steine und anderes Stückgut lagerten, möblieren nun eine Kombüse, zwei lange Holztische, gemütliche Bänke, eine Seefahrtsbibliothek mit Sofa und Kohleofen sowie schmale Hochbetten und Toiletten den 50 Quadratmeter großen Raum. Durch verglaste schräge Ladeluken fällt spärliches Tageslicht unter Deck. Skipperin Ruth rollt eine Seekarte aus und erläutert die Nordpassage ins Wattenmeer.
Die Luft riecht nach Salz und See. Auf dem Oberdeck werden die ersten Gläschen Jenever gesippt. "Ihr befindet Euch auf einem Plattbodenschiff. Weil es keinen Kiel und nur 96 Zentimeter Tiefgang hat, kann es vor Sandbänken trocken laufen", erklärt Ruth. Skipper nennen das "Beaching". Dann zeigt sie auf eine Gezeitentabelle: "In einer Stunde sind wir da."

Gemächlich gleitet der Eilandhopper durch die Wellen. Meile um Meile hellt der Himmel auf. Jaap Klosterhuis platziert ein armlanges Fernrohr an Deck. Beim Blick durch das Objektiv wird die Szenerie zum Guckkasten: Seehunde und zwei Meter große Kegelrobben fläzen sich auf Sandbänken, Austernfischer picken mit ihren langen Schnäbeln Würmer aus dem lehmigen Meeresboden, ein Knutt stochert im suppigen Schlick nach Muscheln, während am Himmel Vogelschwärme in akrobatischen Flugformationen unterwegs sind.
Paradies für Vögel
Millionen Vögel kommen jedes Jahr in die Speisekammer Wattenmeer und sammeln für ihren Weg nach Süden Reiseproviant, berichtet Jaap, als ein Dutzend wild schnatternder Gänse am Mast vorbeirauscht. Um ein unvergessliches Vogelspektakel zu erleben, müsse man jedoch morgens oder abends und stets bei Hochwasser eine Beobachtungsstation, am besten auf einem Deich, aufsuchen. Die Aktivität der Vögel richte sich nämlich nach den Gezeiten. Wenn das Watt überflutet ist, rasten sie in großen Trupps auf Salzwiesen oder an Wasserstellen im Binnenland. Bei Ebbe seien die Tiere weit draußen im Watt und oft nur mit einem Fernglas zu beobachten, setzt der Parkförster seine Zuhörer ins Bild.
Martijn ruft "alles is duidelijk!" (alles klar). Das Wasser hat sich zurückgezogen. Der Maat stoppt den Motor und lässt 20 Meter vor einer Sandbank am Schiffsbug eine Leiter herunter. Eingepackt in dicke Windjacken, mit kurzen Hosen, langen Stiefeln oder barfuß waten die Passagiere, ausgerüstet mit Feldstecher und Kamera, durch das knie-, manchmal hüfthohe Wasser an "Land". "Braucht ihr einen Laufstab oder wollt ihr einen starken Mann?", grinst Laab: "Wir haben auch schon Minister in den Sandkasten getragen!"
Farbenexplosion
Der feste Boden der knapp einen Quadratkilometer großen "Engelsmanplaat" ist leicht begehbar. Leichter vermutlich als der schmatzende tiefe Schlick, durch den am blauschimmernden Horizont eine Schar "Watloper" zur Insel Schiermonnikoog stapft. Bald sind die Wattläufer nur noch als schwarze Striche vor dem sich orange und ockergelb färbenden Himmel wahrnehmbar. Zerfetzte, tief über dem Watt hängende Wolken scheinen in die Nordsee zu fallen. Dann brennt der Himmel lichterloh.

Am Abend öffnet die Sonne über dem Wattenmeer ihren Malkasten.
- © Manfred LädtkeDie untergehende Sonne taucht die Szenerie in ein gewaltiges Glutrot, spiegelt sich eitel in Prielen und Wasserrinnen und geht mit dramatischem Finale im Meer auf Tauchstation. Niemand spricht ein Wort. Ergriffen von dem Naturschauspiel lauscht jeder der einsamen Stille. Nur manchmal ist ein leises Knistern oder Glucksen im Boden zu hören.
Mit auffrischendem Seewind in den Haaren verlässt die Gruppe ihren Logenplatz in der Wildnis. Matsch abspülen, beim Abendessen Lammkoteletts, Fisch oder Austern auswählen und einen wärmenden Schnaps kippen – dann geht´s zur nächsten Naturshow an Deck. Pechschwarze Nacht umhüllt das nun in seichter Flut dümpelnde Schiff. Nur oben am Firmament kommt Licht ins Dunkel und lässt die Passagiere ihr blaues Wunder erleben. Tausende, Millionen Lichter funkeln so hell und klar wie sonst nur über der Wüste. Neben dem Großen Bär und dem silbrigen Band der Milchstraße ziehen Satelliten ihre Bahn, dazwischen flitzen Sternschnuppen durch den Kosmos. Bleibt zu hoffen, dass sich alle Wünsche erfüllen.
Je nach Jahreszeit bilden sich an einem wolkenlosen Nachthimmel unterschiedliche Sternenbilder, weiß Laab Klosterhuis. Dass die über Land aber immer öfter im Dunkeln blieben, liege an den "Schattenseiten des Lichts". Leuchtreklame, Skybeamer, Straßenlaternen, Verkehrsampeln oder Wohnungsbeleuchtungen stülpen eine Lichtglocke über die Städte. Dunkelheit werde dann nur noch als ein von fahlem Kunstlicht beleuchteter Himmel wahrgenommen. Menschen könne der Lichtmüll krank machen, Tieren raube er die Orientierung. Wenn Milliarden Insekten und Falter von künstlichen Lichtquellen angelockt werden und sie bis zur Erschöpfung umkreisen, fallen sie als Bestäuber und Vogelnahrung aus.
Prachtvoller Sternenhimmel
Wann wird´s mal wieder richtig dunkel? Im Nationalpark Lauwersmeer hat man begonnen, dem hellen Wahnsinn zu Leibe zu rücken. Vor einem Jahr wurde das Gebiet ohne Lichtverschmutzung zum zweiten Dark-Sky-Park in den Niederlanden erklärt. Weltweit gibt es nur 41 Regionen, die diesen Namen tragen dürfen. "Wandern in der Dunkelheit ist ein ganz besonderes Erlebnis", wirbt Laab für eine Exkursion durch die Finsternis im Nationalpark zum Beispiel auf dem dunkelsten Radweg der Niederlande? Niemand hört ihm zu. Jeder wandert mit seinen Augen nur durch das Sternenmeer.

Der Fischerort Zoutkamp ist beliebter Startpunkt für "Fiets"-Touren entlang der Küste.
- © Manfred LädtkeAm frühen Morgen schwingen sich die Teilnehmer dennoch auf die "Fiets", jedoch unter einer lachenden Sonne und mit viel sattem Grün vor den Augen. Beliebter Startpunkt für den 90 Kilometer langen Radparcours "Kiek over Diek" (Guck über den Deich) ist das bunte Fischerdörfchen Zoutkamp. Kanäle, Tümpel, Moore und saftige Salzwiesen begleiten die Tour über Deiche und Pfade. Alte Warftdörfer, Höfe und Windmühlen stehen wie vom Himmel gefallen im offenen Land. Vor einer Rast in einem Gasthof mahnt der Guide, die Räder abzuschließen. "Fiets jatten" (Rad klauen) sei in den Niederlanden fast ein Volkssport. Das Prinzip "Wurde dein Rad geklaut, klau dir eins zurück", sei zwar nicht aller Ehren wert, aber eine aus der Not entstandene unkomplizierte Einstellung, um jederzeit im platten Land mobil zu sein.