Robert d´Abrissel gründete Fontevraud 1101. Er muss ein genialer Sonderling mit eigenwilligen Ideen gewesen sein. Wie ein Rattenfänger zog er die Menschen in seinen Redebann, zugleich mied er die Massen und verzog sich immer wieder in die Einsamkeit. Als er die Führung über eine nomadisierende Gruppe von mehreren hundert Menschen übernahm und ihnen sexuelle Askese in sehr eigenartiger Form abverlangte, wurde es Papst Urban II. zu bunt und er befahl diesem zwiespältigen Prediger, sesshaft zu werden und ein Kloster zu gründen. Robert d´Abrissel wählte die damals noch urwaldartige Gegend von Fontevraud unweit der Loire. Doch der Papst hatte nicht damit gerechnet, welch für die damalige Zeit ungewöhnliche Regeln der ungewöhnliche Gründer für das Klosterleben aufstellen wird.

Er errichtete in der Abtei vier Klöster, drei für Frauen (inklusive eines Spitals) und eines für Männer. Die Mönche wurden (vorsorglich?) außerhalb der Abtei untergebracht. Witwen, mittellose Frauen, "reuige Mädchen" und Ex-Prostituierte (manche Schreiber lassen das Ex gerne weg) fanden im Magdalenenkloster eine sichere Heimstatt, Kranke und Aussätzige wurden im Lazarustrakt gepflegt und Adelige, die sich vom weltlichen Leben zurückziehen wollten oder mussten, führten im Grand-Moutiertrakt ein ruhiges Leben.

Ganz und gar ungewöhnlich war, dass Robert d`Abrissel eine Frau an die Spitze der Abtei stellte und die weibliche Leitung in den Ordensregeln festschrieb. Der Grund für diese weibliche Vormundschaft lag wahrscheinlich an seiner etwas eigenartigen Auffassung von Seelenläuterung. Im Zusammenleben der Mönche und Nonnen sollten ihre Seelen durch eine sexuelle Form der Askese und Selbstkasteiung geläutert werden. Die Chronik berichtet allerdings über häufige Aufstände der Mönche. Robert d´Abrissel verließ jedenfalls schon drei Jahre nach der Gründung die Abtei und zog als Wanderapostel durch die Lande.

Die erfolgreichen Frauen

Petronille de Chemille war die erste Äbtissin und ihr sollten noch 35 bis zur Schließung während der Französischen Revolution folgen. Die Äbtissinnen mussten Managerqualitäten haben, sich Respekt verschaffen, besonders bei den Mönchen. Sie verwalteten nicht nur die weltlichen Güter der Klöster und bestimmten den Ablauf der religiösen Riten, sondern erließen auch genaue Regeln für den Ablauf des Alltags, bis hin zu Kleidervorschriften.

Dass die Mönche sich nicht immer einer Frau unterordnen wollten, war klar. Aber letztendlich zählte das Resultat: Unter der weiblichen Leitung blühte und gedieh die Abtei. Ihr Wirken wurde von den Päpsten und Königen geschätzt. Ihren exzellenten Ruf verdankt es besonders Eleonore von Aquitanien, einer klugen, schönen und vor allem mutigen und beherzten Frau. 1124 als Tochter des Herzogs von Aquitanien geboren, wurde sie mit 13 Jahren mit König Ludwig VII. von Frankreich verheiratet. Als Königin von Frankreich hatte sie trotz des Titels keinen Einfluss auf die Politik. Sie langweilte sich. Kurz entschlossen zog sie mit Ludwig in den Kreuzzug. Dabei kam es zu Eifersuchtsszenen und schließlich im März 1152 zur Scheidung.

Lange blieb sie nicht unverheiratet: Schon im Mai desselben Jahres heiratete sie Heinrich Plantagenet, den späteren König Heinrich II. von England. Als Königin von England gebar sie ihm vier Kinder. Aber auch diese Ehe hatte keinen Bestand. Eleonore schließt sich dem Aufstand der Söhne gegen den Vater an, lebt jahrelang in Gefangenschaft. Nach ihrer Freilassung und Scheidung organisiert sie das Lösegeld für ihren über alles geliebten Sohn Richard Löwenherz und zieht sich 1196 nach Fontevraud zurück, wo sie bis zu ihrem Tod 1204 als Äbtissin die Geschicke der Abtei lenkte und auch begraben wurde.

Wie wichtig ihr Fontevraud war, bezeugen die vier auf einem Hochbett liegenden Großplastiken in der Hauptkirche der Abtei. Sie zeigen sie als Lesende, Heinrich II., ihren Sohn Richard Löwenherz und Angoulême, die Gemahlin von Johann ohne Land, ihrem zweiten Lieblingssohn. Die Großplastiken ("les giants") sind ein Beweis für die große Bedeutung dieser Abtei. Dass Eleonore von Aquitanien, Königin von Frankreich und Königin von England, die Phantasie der Chronisten und Schriftsteller erregte, liegt auf der Hand. Noch heute füllen Romanbiografien über sie die Regale der französischen Buchhandlungen.

Ab dem 17. Jahrhundert entschied der französische König, welche adelige Dame aus dem Hause Bourbon Äbtissin werden sollte. Ab da durfte sich Fontevraud "königliche Abtei" nennen. Renée von Bourbon wurde schon mit 22 Jahren zur Äbtissin gewählt und soll ein besonders strenges Regiment geführt haben. Mönche, die den Aufstand probten, wurden des Klosters verwiesen.

Die Utopie der idealen Stadt

Das 12. Jahrhundert war eine Zeit der Unruhen, Kriege und politischen Umwälzungen. Die Leidtragenden war wie immer die Bevölkerung, die von Hungersnöten und Kriegsleid geplagt wurde. Als Robert d´Abrissel die Abtei gründete, verfolgte er die Grundidee einer idealen Stadt. Er schuf einen Ort, wo das Leben in ruhiger Bahn, ohne Alltagssorgen ablaufen konnte. Von Hunger und Angst befreit sollten die Menschen nach einer festen Ordnung leben, geleitet von einer starken Persönlichkeit.

Die Architektur von Fontevraud spiegelt diesen Grundgedanken wider: Die Bauten sind schlicht, die Funktion bestimmt die Form. Asketisch, fast schmucklos wie sie der Gründer wollte, sind die Unterkünfte, ja selbst die Kirche. Immer mit einem gesicherten Maß an Lebensqualität. Um das Gefühl der Sicherheit, aber auch der Abgeschlossenheit zu verstärken, wurde eine ringförmige Mauer um das Kloster errichtet. Wichtig war Robert d´Abrissel die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Klosters. Einkünfte aus Grundbesitz, Wäldern, Fischfang, Bergbau, Pachten und Wegegeldern garantierten die materielle Sicherheit. Was in der "idealen Stadt" fehlte, war die persönliche Freiheit. Die gab es grundsätzlich in keinem Kloster. In Fontevraud noch weniger, da jede Äbtissin mit starker Hand ihre Macht schützen musste.

Als das Kloster in den Wirren der Französischen Revolution 1792 aufgelöst wurde, verfielen die Gebäude und wurden 1804 als Gefängnis benützt. Bis zu 1.700 Häftlinge lebten auf engsten Raum und schufteten in den Manufakturen. Fotos und Gipsabdrücke verschiedener Köpfe im nahen Wald bezeugen das Leid der Gefangenen.

Künstler haben Gipsabdrücke von Köpfen ehemaliger Gefangener im nahen Wald als Memorial angebracht. 
- © Silvia Matras

Künstler haben Gipsabdrücke von Köpfen ehemaliger Gefangener im nahen Wald als Memorial angebracht.

- © Silvia Matras

Nach der Schließung 1963 beschloss der Staat, den grandiosen Baukomplex zu restaurieren und ihn als wichtiges Kulturzentrum für Westfrankreich zu nutzen. Die ehemaligen Gärten wurden im Sinne des Gründers in ihrer ursprünglichen Schlichtheit wieder hergestellt. Blumen, die wie zufällig wachsen. Ein strenges Parterre mit Ornamenten wird man vergeblich suchen. Hingegen wird der Gemüse- und Obstgarten von Nicole, dem kundigen Biogärtner, gepflegt. Die Produkte werden im Restaurant direkt verkocht. Restaurant und Hotel sind im ehemaligen Spitalstrakt untergebracht. Die für den Umbau verantwortlichen Architekten Jouin und Manku folgten dem Prinzip der klösterlichen Askese: Funktion diktiert die Form, die von einer männlichen Ästhetik geprägt ist.

Hauptaufgabe des Kulturzentrums ist die Förderung der Gegenwartskunst. Es sind vor allem junge Künstler aus der nahen Umgebung, die als "artists in residence" für einige Zeit in der Abtei wohnen und ihre Werke vor Ort ausstellen, wie die Malereien von Francoise Petrovich. Sie nennt die auf dem Boden vor dem Hauptaltar ausgebreiteten Großfiguren "poetische Variationen" der liegenden "giants" aus dem Geschlecht der Plantagenêt (Eleonore, Heinrich II., Richard Löwenherz und Isabella von Angoulême). Die Interpretation der Bilder fällt jedem einzelnen zu und ist nicht wirklich leicht aufzuschlüsseln.

Durch die Abtei spazierend entdeckt man immer wieder Kunst in verschiedenster Form. Eindrucksvoll sind die Malereien von Geoffroy Pithon. Er bedeckte die Wände der ehemaligen Gefängnisgalerie mit großen Farbflächen, die an bunte Gärten erinnern. Vielleicht wollte er den Kontrast zwischen dem tristen Gefängnisleben drinnen und der Farbigkeit draußen evozieren oder einfach eine Hommage an die Insassen anbringen.

Der Künstler Geoffroy Pithon bemalte die Gänge des ehemaligen Gefängnisses mit Blumenwiesen. 
- © Silvia Matras

Der Künstler Geoffroy Pithon bemalte die Gänge des ehemaligen Gefängnisses mit Blumenwiesen.

- © Silvia Matras

Zentrum und Herzstück von Fontevraud ist das im Mai 2022 eröffnete Museum für moderne Kunst mit der äußerst spannenden Sammlung von Martine und Léon Cligman. Sie sammelten nicht große Namen, sondern Bilder, die ihnen gefielen. Aus den vielen unterschiedlichsten Werken stellten Dominique Gagneux und Gatien du Bois eine Ausstellung der speziellen Art zusammen. Sie ordneten die Bilder nicht chronologisch an, sondern fassten Bildergruppen zusammen, die irgendein Detail gemeinsam haben. Das kann ein ganz banales Merkmal sein, wie etwa die Riesenaugen einer altgriechischen Maske und die einer Zigeunerin von Kees van Dongen ("Tête de Gitane"). Mit dieser Suchaufgabe wird der Besuch dieser Ausstellung nicht nur interessant, sondern auch unterhaltsam.
Es schließt sich der Kreis: Was Robert d‘ Abrissel einst als ideale Stadt für Nonnen und Mönche geplant hat, ist heute ein idealer Ort für Kunstinteressierte. Wer die Abtei besucht, taucht in eine Welt von einst und jetzt ein.