Da verschlägt es einem die Sprache, der Atem stockt! Gebeine, wohin das Auge reicht, und riesige Skelette bis fast an die Decke: Der erste Saal der Pariser Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée (Galerie der Paläontologie und vergleichenden Anatomie) hat es in sich. Er scheint aus der Zeit gefallen mit seinen hunderten Stützapparaten, welche die Anatomien von Wirbeltieren zeigen und vergleichen, sei es in Form von Skeletten von Känguru, Schlange, Büffel, Giraffe oder Okapi oder gar von fingernagelkleinen Fledermausschädeln. Tot und lebendig zugleich sind die Überreste der zum Teil bereits ausgestorbenen oder vom Aussterben bedrohten Spezies: Da schwingt sich ein Schimpanse von Ast zu Ast, daneben greifen sich die Fingerknochen eines fünfjährigen Orang-Utan auf die Stirn, in einer anderen Vitrine steuert eine Taube ihr nächstes Ziel an und ein Eichhörnchen stürzt vom Baum.

Vom Podest wiederum blickt ein großes Gnu mit seinen geschwungenen Hörnern in den Raum, und angesichts der riesigen Wale inmitten des riesigen Raumes fällt einem dann auch plötzlich ein, wie leicht es einem solchen Meeresgiganten wohl gefallen sein mag, Geppetto und Pinocchio zu verschlucken. Die Dichte der Knochenschau ist beeindruckend, fast so, als sollte damit der Enge der Stadt, der Dichte der Häuserreihen, durch die sich Menschen, Autos, Motorräder und neuerdings auch immer mehr Fahrräder mäandern, ein Zeugnis gesetzt werden.

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Der rote Panda von Paris

Die Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée (eröffnet 1898) gehört zur naturwissenschaftlichen Sammlung im Jardin des Plantes, dem botanischen Garten, und ist ein junger Teil der Anlage, die Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Französischen Revolution in den Dienst der naturwissenschaftliche Forschung gestellt wurde. Ursprünglich war der im Südosten von Paris gelegene Park im 17. Jahrhundert von den Leibärzten Ludwigs XIII. als Heilkräutergarten angelegt worden. Heute findet man auf dem 23 Hektar großen Gelände neben den Museen unter anderem auch einen Alpengarten, einen Zoo und Gewächshäuser.

Der Jardin des Plantes ist eine große, grüne Oase mitten in der Stadt – wo sonst quaken inmitten einer Stadt die Frösche? –, der zu Unrecht nur selten ganz oben auf der Liste eines Paris-Besuchs steht. Zu zahlreich sind die Sehenswürdigkeiten und Schauplätze, die Paris zu bieten hat. Dabei gibt es weit faszinierendere Orte und Möglichkeiten als einen Blick vom Eiffelturm nach unten, als die besungene Einkaufsmeile der Champs-Élysées, als der mit Vorhangschlössern behangene Pont Neuf oder das postmoderne Centre Pompidou. Ein Beispiel: das in einer prachtvollen Parkanlage eingebettete Film- und Fotoarchiv des Albert Kahn.

Im japanischen Garten des Albert Kahn.

- © J.Kerviel
Im japanischen Garten des Albert Kahn.
- © J.Kerviel

Das Erbe eines Philanthropen

Selbst den meisten Paris-Kennern und Einheimischen ist der prachtvolle Garten in Boulogne-Billancourt im äußersten Südwesten der Stadt neu. Für ihn ließ zwischen 1894 bis 1910 der französische Bankier Albert Kahn in Japan ganze Häuser abtragen, um sie auf seinem Gelände mit den Gartenkulturen und Gartenkünsten Japans, Englands und Frankreichs wieder aufzustellen. Dort dienten die Schatten der Bäume fortan als Treffunkt internationaler Prominenter, Gelehrter und Künstler.


Links
Siehe auch:
tramway.at/paris/ceinture.html
Albert Kahn Museum
Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée
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Albert Kahn, geboren 1860 im Elsass, zählte bereits im Alter von 30 Jahren zu den bedeutendsten europäischen Unternehmern, sein Vermögen stammte vorwiegend aus Spekulationen mit südafrikanischen Gold- und Diamantenminen. Der Geschäftsmann galt auch als Philanthrop und Fan der Fotografie. So beauftragte er Reporter und Kameramänner damit, die Welt zu dokumentieren. Resultat: eine gewaltige wie faszinierende Sammlung von Fotos und Filmaufnahmen in Farbe, die  "Archives de la Planète" ("Archive des Planeten").

Kahns Idee war, die visuelle Darstellung des alltäglichen Lebens aus allen Teilen der Welt für ein besseres Verständnis von anderen Menschen und Kulturen einzusetzen, um eine friedliche Welt zu schaffen. Seine Archive umfassen die ersten Farbaufnahmen in der Geschichte der Fotografie, sie zeigen Menschen des vorigen Jahrhunderts von Amerika bis Vietnam, Soldaten im Krieg, oder auch  Szenen aus den letzten gälischen Dörfern Irlands.

Wallace-Brunnen (zum Vergrößern bitte anklicken)

- © J.Kerviel
Wallace-Brunnen (zum Vergrößern bitte anklicken)
- © J.Kerviel

Auf seinem Gelände in Boulogne befindet sich heute das Museum "L’Espace Albert Kahn" samt seiner Archive mit rund 72.000 monochromen Fotografien und 170.000 Meter Film. Übrigens: Ebenfalls einem reichen Philanthropen hat Paris seine öffentlichen grünen Trinkwasserbrunnen zu verdanken. Der Engländer Richard Wallace finanzierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem vererbten Vermögen seines Vaters die bis heute prägenden Elemente des Pariser Stadtbildes.

Über der Gürtellinie

Eine andere große, grüne Unbekannte von Paris ist die "Petite Ceinture", die Trasse der Stadtbahn, die ab 1852 die Bahnhöfe am Rand von Paris verband. Im Jahr 1934 wurde sie stillgelegt, ihr 32 Kilometer langer Damm durchzieht aber noch heute die Metropole und ist auf Stadtplänen eingezeichnet. Mittlerweile haben Flora und Fauna den "kleinen Gürtel" überzogen, der zu einer Art Parallelwelt geworden ist: Einerseits ist man mitten in der Stadt, andererseits fernab vom Geschehen, auf den vielen Brücken ein einsamer Beobachter. Meist menschenseelenallein ist man dort oben in der Millionenmetropole unterwegs, nur hin und wieder trifft man auf obdachlose, spazierende oder feiernde Pariser.

Bis Ende 2013 soll ein 1,3 Kilometer langes Teilstück der Trasse im Westen der Stadt für die Öffentlichkeit renoviert werden. Bis dahin wird man einen öffentlichen Zugang zur "Petite Ceinture" vergeblich suchen. Es gibt keinen. Nur mit viel Glück findet man auch ohne Vorkenntnisse einen leicht zu überwindenden Zaun oder eine offene Türe – allesamt streng gehütete Geheimnisse; die Möglichkeiten, sie zu lüften, sind für Außenstehende beschränkt.

Kaum bekannt aber nicht minder bezaubernd als das übrige Paris ist die "Petite Ceinture", eine alte Eisenbahntrasse rund um Paris. 

- © J.Kerviel
Kaum bekannt aber nicht minder bezaubernd als das übrige Paris ist die "Petite Ceinture", eine alte Eisenbahntrasse rund um Paris. 
- © J.Kerviel

Einen einfachen Weg zu Informationen zu versteckten Orten und Plätzen, die sich Fremden nur selten erschließen, bietet wimdu an, eine umfangreiche Online-Plattform für Privatwohnungen und -zimmer. Das deutsche Unternehmen wurde 2011 gegründet, mittlerweile stehen weltweit rund 150.000 private Unterkünfte zur Auswahl, darunter ein Baumhaus in der Bretagne oder eine Krankabine in den Niederlanden. In Paris sind die Angebote zwar nicht so ausgefallen, dafür aber umfangreich und vielfältig, was Preis, Größe und Lage betrifft. Bilder und Bewertungssystem erleichtern außerdem die Auswahl der Wohnungsart, und im Unterschied zu Couch Surfing bleibt es einem selbst überlassen, ob man mit Einheimischen zusammenwohnt oder nicht.

Wohnen in privaten Unterkünften ist nicht nur preiswerter, sondern auch erkenntnisreicher. Es zeigt sich zum Beispiel schnell, dass man in Paris nicht nebeneinander, sondern vielmehr miteinander wohnt, vor allem angesichts der kleinen Wohnungen und hellhörigen Häusern. Dadurch spielt sich ein Großteil des Lebens in Paris auch außerhalb der eigenen vier Wände ab, die vielen Bistros, vollen Parks, die stark frequentierten Ufer der Seine und die Gehsteige entlang des Canal Saint-Martin am Abend zeugen davon. Außerdem lernt man in privaten Unterkünften schnell die Eigentümlichkeiten anderer Städte kennen: So kochen die meisten Menschen in Paris angesichts der kleinen Wohnungen auf maximal zwei Herdplatten, für Kinderwägen ist es selbst in den engsten Stiegenhäusern noch genug Platz und wer meint, für Pariser Haustore gäbe es Schlüsseln, der irrt: Ein meist fünfstelliger Zahlencode schafft Eintritt in den Hausflur.

Eine aufblühende Rose

Als Vorbereitung für authentisches Wohnen in Paris kann man auch die Anreise nutzen, zumindest was die Raumgröße betrifft. So fährt die Deutsche Bahn täglich mit einem Nachtzug von München nach Paris und zurück (eine direkte Verbindung von Wien gibt es leider nicht mehr), mit Abteilwagen, Liegewagen oder Schlafwagen. Letzterer ist zwar klein, aber fein: Mit Waschbecken und Frühstück landet man am Morgen erfrischt mitten in der Stadt, die Fahrt selbst vergeht in den fahrenden Zimmern wie im Flug, unter anderem, weil die gut isolierten Fenster der Schlafwagenabteile für eine erholsame Nacht sorgen: Ein Großteil des Ratterns bleibt draußen. Franz Kafkas Paris-Erfahrung bleiben einem somit mittlerweile erspart. Ihm war die Bahnreise viel zu beschwerlich und schmutzig, um an der Metropole Gefallen zu finden. Er zog sich zur Erholung ins Hotelzimmer zurück und ließ Paris Paris sein.

Honoré de Balzac wiederum verglich die Seine-Metropole mit einer aufblühenden Rose, die sich umso mehr entfaltet, je tiefer man in sie eintaucht. In diesem Sinne sei der von Duncan J. D. Smith erschienene Reiseführer "Nur in Paris" (Brandstätter-Verlag) zu 98 einzigartigen Plätzen in Paris genannt. Zwei der hier angeführten Orte sind ebenfalls in dem Buch erwähnt, dazu kommen Stätten, die an den Liedermacher Georges Brassens erinnern, von Kolonialismus und Imperialismus ebenso handeln wie vom echten Glöckner von Notre Dame, von ausgestopften Ratten oder den Gebeine Ludwigs XVI. Smiths Erkundungen fernab von Touristenmagneten sind all jenen empfohlen, die Neues über Paris entdecken wollen oder einen fundierten, umfassenden und klischeefreien Reiseführer für die schöne Metropole suchen.