Küssen sei harmlos, sagt Wolfgang Wilhelm, Psycho- und Sexualtherapeut und ehemaliger Obmann der Aids Hilfe Wien, um gleich einmal mit einem der größten Irrtümer aufzuräumen. Auch in der Sauna oder bei der Massage könne nichts passieren. "Die allermeisten Übertragungen des HI-Virus passieren beim Sex, weil das Virus in Blut-, Samen- und Vaginalflüssigkeit in hoher Konzentration vorhanden ist", sagt er zur "Wiener Zeitung". Auch in Schweiß, Urin oder Tränen könnten einzelne Viren auftauchen – "aber nie so viele, dass sie übertragbar wären".

In Hirnflüssigkeit seien sie allerdings genauso wie in Muttermilch ebenfalls hochkonzentriert enthalten. Während Hirnflüssigkeit bei Unfällen relevant werden könnte, kann Muttermilch zur Gefahr für Säuglinge werden. HIV-positive Mütter sollen daher laut Wilhelm ihre Babys nicht stillen.

Anfangs 25 Tabletten täglich

HIV-positiv zu sein, bedeutet jedoch nicht automatisch, das Virus künftig übertragen zu können – zumindest seit dem Jahr 1996. Damals kamen die ersten Medikamente auf den Markt, die das Virus an seiner Vermehrung hindern. Waren es anfangs noch 25 Tabletten mit zum Teil starken Nebenwirkungen pro Tag, nach denen man seinen gesamten Tagesablauf richten musste, so sind es heute nur noch ein bis zwei Tabletten. Sollte jemand Resistenzen entwickeln, gibt es bereits unterschiedliche Wirkstoffe, mit denen die Therapie dann umgestellt weitergeführt werden kann. Um die Viruslast zu überprüfen, sind alle drei bis sechs Monate Kontrollen vorgesehen.

Von den weltweit rund 37 Millionen HIV-infizierten Menschen seien mittlerweile 60 Prozent auf Therapie, so Wilhelm. Die Anzahl der Todesfälle ist dadurch stark gesunken. Konkret erhielten 2010 etwa acht Millionen Menschen eine Therapie, während 1,4 Millionen an den Folgen der Infektion verstarben. 2018 waren 23,3 Millionen auf Therapie und 0,8 Millionen Menschen verstarben. Und auch die Anzahl der Neuinfektionen ist in dieser Zeit von 2,2 Millionen auf 1,7 Millionen gesunken.

Vor allem in asiatischen Ländern, Subsahara-Afrika oder Osteuropa, "wo das Gesundheitssystem nicht auf unserem Niveau ist", hätten zahlreiche Betroffene aber keinen Zugang zur Therapie, so Wilhelm. Denn für die Krankenkassen, die in vielen Ländern die Kosten zur Gänze übernehmen, bedeutet eine Therapie etwa 1000 Euro pro Patient und Monat.

Meldepflicht an Ministerium

Auch für Österreich, wie es auf Nachfrage der "Wiener Zeitung" vom Dachverband der Sozialversicherungsträger heißt. Die gesamten Ausgaben für HIV-Medikamente lagen demnach 2018 bei rund 75 Millionen Euro. Dieser Betrag schwankte in den vergangenen Jahren zwischen 67 und 80 Millionen Euro jährlich. In Österreich gibt es Schätzungen des Gesundheitsministeriums zufolge 9000 bis 12.000 Menschen, die mit HIV infiziert sind. Die Zahl der nach einem Bestätigungstest positiv befundenen Personen muss an das Ministerium gemeldet werden.

Bei guter Therapie ("Treatment as Prevention" oder TasP) könne die sogenannte kritische Menge an Viren im Blut unterschritten werden, sagt Wilhelm, unter der diese nicht mehr übertragbar sind. Konkret seien das 20 Viren pro Milliliter Blut. Es gehe um das Zusammenspiel der CD4-Helferzellen, die an der Oberfläche von Zellen des Immunsystems vorkommen, und der HI-Viren. Letztere docken an den CD4-Helferzellen an – ist die Viruslast zu groß, bricht das Immunsystem zusammen, und erste Aids-definierende Erkrankungen treten auf. Man spricht von Aids.

"Das Virus übernimmt die Macht", sagt Wilhelm. Der Patient wird krank. Von der Lungenentzündung bis hin zum Tumor seien zahlreiche Erkrankungen möglich. Diese opportunistischen Infektionen, wie man sie auch nennt, könne man zwar behandeln – die Tendenz sei aber, dass sie nach drei bis vier Jahren zum Tod führen. Hält man die Viruslast mithilfe der Therapie gering, sei die Lebenserwartung genauso hoch wie bei einem gesunden Menschen, sagt Wilhelm.

Um sich vor HIV zu schützen, sollten Kondome verwendet werden, es gibt aber auch die Möglichkeit der Präexpositionsprophylaxe (PrEP). Hinter dieser sperrigen Bezeichnung verbirgt sich ein antivirales Medikament, das in Tablettenform täglich eingenommen werden muss. Die Ansteckungswahrscheinlichkeit reduziert sich damit laut Wilhelm um 98 Prozent – ähnlich wie beim Kondom.

Und auch nach dem Kontakt mit HIV hat man noch die Chance, eine Infektion zu verhindern. Man muss allerdings schnell sein: Mit der Postexpositionsprophylaxe (PEP) sollte am besten innerhalb von zwei, möglichst aber innerhalb von 24 und spätestens 72 Stunden begonnen werden. Die hier eingesetzten Medikamente, die einen Monat lang täglich eingenommen werden müssen, hindern HIV an der Vermehrung. Sie seien jedoch eine Maßnahme für den Notfall, betont Wilhelm, zum Beispiel nach einer Vergewaltigung oder dem Platzen eines Kondoms. Denn auch die Kosten der PEP liegen wie bei der normalen Therapie bei rund 1000 Euro pro Patient und Monat.

Selbsttests aus der Apotheke

Das Problem dabei: Die PEP-Einnahme kann immer nur auf den Verdacht hin erfolgen. Denn eine absolute Sicherheit einer Übertragung gibt es so kurz danach nicht. Ganz im Gegenteil. "Die Antikörper sind erst sechs Wochen nach der Infektion nachweisbar", sagt Wilhelm. Der Antikörpertest wird mit venösem Blut durchgeführt. Die Aids Hilfe Wien, die im Vorjahr mehr als 10.000 Tests durchgeführt hat, bietet daneben einen ebenfalls anonymen HIV-Schnelltest an, wobei bei diesem ein positives Ergebnis eine Bestätigung mittels Labortest erfordert. Der Schnelltest wird mit Kapillarblut aus der Fingerspitze durchgeführt und ist grundsätzlich erst zwölf Wochen nach der Infektion aussagekräftig, aber das Ergebnis liegt schon 20 Minuten nach der Blutabnahme vor. Seit 2018 sind auch Selbsttests um rund 30 Euro in den Apotheken erhältlich. Diese sind ebenfalls Schnelltests.

Besonders gefährdet seien Sexarbeiterinnen, Männer, die Sex mit Männern haben, Häftlinge, Menschen aus Hochprävalenzländern oder Drogenkonsumenten, sagt Wilhelm. "Weltweit gesehen ist Sex der mit Abstand häufigste Infektionsweg und statistisch gesehen vor allem der heterosexuelle Sex", so Wilhelm weiter. Die am häufigsten betroffene Gruppe sei jene der jungen, nicht Drogen gebrauchenden Frauen. Warum? "Weil die Vaginalschleimhaut, wenn man sie auffaltet, eine große Angriffsfläche für Viren bietet."

HIV ist ausschließlich von Mensch zu Mensch übertragbar. Die genaue Geschichte des Virus ist ungewiss. Es dürfte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen sein, dass sich erstmals Menschen mit dem Simianes Immundefizienz Virus (SIV) infizierten, das ursprünglich nur bei Schimpansen vorkam. Irgendwann mutierte es – die Verbreitung des Humanen Immundefizienz Virus (HIV) entwickelte sich Anfang der 1980er zu einer Pandemie, die bis heute rund 40 Millionen Menschenleben gekostet hat, schätzt das Gemeinsame Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids. In Österreich waren es der Aids-Statistik zufolge kumulativ 2000 Todesfälle. Heute gibt es den Ausbruch des Krankheitsbildes von Aids in Österreich laut Wilhelm "eigentlich nicht mehr".

Wie so oft bei bahnbrechenden Entdeckungen war es nicht nur einer, sondern waren es mehrere, die den Erstnachweis des HI-Virus im Jahr 1983 für sich beanspruchten und einen jahrelangen Rechtsstreit führten. Dieser endete schließlich für Luc Montagnier, der gemeinsam mit Francoise Barré-Sinoussi in Frankreich forschte, und den Amerikaner Robert Gallo damit, dass Gallo 1991 von seinem Anspruch der Erstentdeckung zurücktrat. Der Medizin-Nobelpreis wurde daher 2008 Montagnier und Barré-Sinoussi zuerkannt.