Als Franz und Sabine ihren Sohn zum ersten Mal sehen, sitzt er in sich zusammengesunken auf dem Boden. Vor ihm ist eine Holzeisenbahn aufgebaut, die schwarze Lok steht auf den Schienen still. Peter ist dreieinhalb Jahre alt und lebt seit einigen Wochen in einem Kriseninterventionszentrum. Wo sein Zuhause ist, weiß er nicht. Das hier ist es jedenfalls nicht. "Als ich ihn das erste Mal gesehen habe, habe ich gleich gewusst, dass ich die nötige Kraft habe, um alles zu schaffen - egal, was", sagt Sabine heute. Auch, wenn seitdem bereits 13 Jahre vergangen sind, strahlt sie bei diesem Satz vor Glück, und die Tränen steigen ihr in die Augen.
Mehr als 12.500 Kinder und Jugendliche in Österreich leben derzeit nicht bei ihren leiblichen Eltern. Rund 5.000 von ihnen wachsen in Pflegefamilien auf, der Rest ist in Wohngemeinschaften, Kinderdörfern, Heimen oder Krisenzentren der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht. Das geht aus aktuellen Zahlen der Kinder- und Jugendhilfestatistik hervor. In der Regel werden betroffene Familien schon länger von Sozialarbeitern betreut, wenn zum ersten Mal das Wort "Pflege" fällt. Denn das erste Ziel ist zunächst immer, gemeinsam mit der Familie an bestehenden Problemen zu arbeiten und sie entsprechend zu unterstützen.
So sollen Kinder möglichst im Familienverbund verbleiben können - gegebenenfalls auch bei den Großeltern oder einer Tante, wenn es bei den Eltern nicht länger möglich ist. "Die Kinder- und Jugendhilfe muss immer das gelindeste Mittel anwenden. Wenn das die Abnahme des Kindes ist, dann sind die bestehenden Probleme in der Familie sehr groß", sagt Martina Reichl-Roßbacher, Leiterin des Fachbereichs Pflegekinder bei der Kinder- und Jugendhilfe der MA 11 in Wien. Je jünger ein Kind ist, desto schneller müsse gehandelt werden, um ihm das Aufwachsen in einer Pflegefamilie ermöglichen zu können. Vor allem bei älteren Kindern falle die Wahl oft auf eine betreute Wohngemeinschaft. Denn für sie sei es meist schwieriger, eine elterliche Beziehung zu fremden Erwachsenen aufzubauen.
Bei Sabine und Franz war es die Sehnsucht nach einem Kind, die sie dazu brachte, ein Pflegekind aufzunehmen. Der Weg zu Peter war ein langer, begleitet von vielen Ängsten und Sorgen. Denn jedes Kind bringt seine eigene Geschichte mit, die meist von Gewalt, Sucht, Vernachlässigung oder psychiatrischen Erkrankungen im Umfeld geprägt ist.
Damit werdende Pflegeeltern bestmöglich auf diese besonderen Herausforderungen vorbereitet sind, durchlaufen diese eine entsprechende Ausbildung. In mehreren Modulen und Seminaren erhalten sie Informationen zur Rechtsstellung von Pflegeeltern, zum Umgang mit kindlichen Traumata und Bindungen sowie zum wertschätzenden Umgang mit der Herkunftsfamilie. In Gruppensettings können sich Pflegeeltern vor und auch nach der Aufnahme eines Kindes mit anderen Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, austauschen. "Die Supervisionen waren das Um und Auf für mich. Wir konnten frei über unsere Ängste und Nöte sprechen - jeder hat mit den anderen mitgeweint", erzählt Sabine.
"Da steht ein Monster vor der Tür"
Auch Peters Geschichte wirkte nach. Er weinte viel, schrie und schlug häufig um sich. Manchmal so stark, dass Sabine blutete. Dazu kamen Entwicklungsverzögerungen und ein großer Förderbedarf: Ergotherapie, Legasthenie- und Augentrainings waren seine ständigen Begleiter, lange hatte er Angst vor dem Toilettengang. "Wir haben uns oft gefragt, ob er es im Leben schaffen wird. Während alle Eltern am ersten Schultag stolz erzählt haben, was ihre Kinder vom Lesen übers Rechnen bis hin zum Schreiben schon alles können, haben wir uns gesorgt, ob er die Schule überhaupt abschließen wird", erinnern sich Franz und Sabine.
Was genau Peter erlebt hat, ist seinen Pflegeeltern bis heute größtenteils verborgen geblieben. Vom Jungendamt haben sie im Vorfeld lediglich erfahren, dass Gewalt in der Herkunftsfamilie eine große Rolle spielte. Peter selbst spricht darüber nur in Rätseln.
"Wenn man ihn auf seine Vergangenheit anspricht, hält er sich bis heute die Ohren zu und beginnt zu schreien. Die Sozialarbeiter betonen immer, wie wichtig es ist, über die Herkunftsfamilie zu reden. Wir haben es oft versucht und ihm auch vorgeschlagen, mit jemand anderem zu sprechen, aber er möchte das absolut nicht. Wir wollen ihn nicht mehr dazu zwingen. Wir denken, das hat auch mit seiner Identität zu tun: Er wollte einfach immer ein Kind wie alle anderen sein. Auch für uns ist er kein Pflegekind. Er ist einfach nur Peter.

Stattdessen hat er seine eigene Art entwickelt, seine Erlebnisse zu verarbeiten: Vor allem, als er klein war, hat er alles in Geschichten verpackt. So haben wir auf indirekte Art und Weise einige Details aus seiner Vergangenheit erfahren. Er hatte zum Beispiel eine Phase, in der er immer wieder sagte: ,Der Franz hat mich getreten. Der Franz hat mich geschlagen. Gemeint hat er wohl seinen leiblichen Vater, von dem wir wissen, dass er gewalttätig war. Ein anderes Mal war er für einige Tage krank. Als er wieder auf den Beinen war, schaute er uns an und meinte: ,So, jetzt habe ich den bösen Mann besiegt. Unzählige Male war er auch überzeugt: ,Da steht ein Monster vor der Tür! Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir diese Monster aus dem Fenster geworfen oder im Klo hinuntergespült haben."
Auch wenn Eltern nicht dazu in der Lage sind, selbst für ihre Kinder zu sorgen, bedeutet das nicht, dass sie jegliche Rechte in Bezug auf das Kind verlieren. Denn die Abnahme erfolgt meist im Dialog mit den Eltern: Auf freiwilliger Basis gehen diese eine Vereinbarung mit der Kinder- und Jugendhilfe ein. Der Kinder- und Jugendhilfestatistik zufolge ist in nur zehn Prozent der Fälle eine gerichtliche Verfügung notwendig. Das Recht auf Pflege und Erziehung geht dabei immer an das Jugendamt, das in weiterer Folge die Pflegefamilie mit der Ausführung beauftragt. Denn das ist absolut notwendig, um den Alltag des Kindes bestimmen zu können: Wo es zur Schule geht, ob und wogegen geimpft wird oder ob es einen Klavierkurs besucht. Andere Details bespricht man in der Regel gemeinsam und einvernehmlich mit den leiblichen Eltern.
Zwischen elterlicher Bindung und Trauma
Umgekehrt kommen der Herkunftsfamilie im Normalfall Kontaktrechte zu. Eltern haben also ein Recht, über das Kind informiert zu werden und es auch zu sehen. "Die meisten Eltern wollen die Kinder zwar weiterhin sehen, wissen aber, dass sie in der Pflegefamilie besser versorgt sind. Künftige Pflegeeltern sollten also dazu bereit sein, wertschätzend mit den leiblichen Eltern umzugehen. Wichtig ist es auch, zuzulassen, dass das Kind die Herkunftsfamilie weiterhin gerne haben darf", sagt Martina Reichl-Roßbacher.
Dass nicht immer alles ganz so glatt läuft, haben Franz und Sabine schnell bemerkt. Auch für Peter gab es rasch nach seinem Umzug begleiteten Besuchskontakt mit seinen leiblichen Eltern. Doch schon bald wurde klar, dass diese Peter nicht guttaten.
"Unser Sohn hatte kaum Zeit, richtig bei uns anzukommen, da gab es schon die ersten Besuchstermine. Wir hatten gleich sehr viele Besuche hintereinander - der Grund dafür war wohl, dass die Eltern vor Gericht Einspruch gegen die Abnahme erhoben hatten. Bei jedem Besuch machte Peter klar deutlich, dass er hier nicht sein wollte: Er hielt sich die Augen zu und drehte sich von seinen Eltern weg. Nach jedem Treffen war er regelrecht re-traumatisiert. Er weinte und schrie tagelang. Dann war er wieder völlig in sich versunken - ganz so, wie wir ihn am ersten Tag im Kriseninterventionszentrum kennengelernt hatten. Er wollte nicht mehr hinaus gehen, auch Weihnachten wollte er nicht feiern. Wir riefen mehrmals beim Jugendamt an und schilderten die Situation. Letztendlich bestätigten eine Psychologin und eine Gutachterin des Jugendamts, dass die Besuche nicht in Peters Sinne seien.
Wir boten seiner Mutter an, sie allein zu treffen, um ihr regelmäßig von Peter zu erzählen - aber das wollte sie nicht. Als das Gerichtsurteil kam, war das sehr beruhigend für uns - nicht zuletzt, weil damit die Chance, dass er irgendwann wieder von uns wegmuss, sehr gering wurde."
Die Familie ist nicht immer die erste Wahl
Das Wort "Pflegesohn" fällt im Gespräch mit Franz und Sabine nur selten. Peter ist ihr "Sohn" oder einfach nur Peter. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich ein leibliches Kind mehr oder weniger lieben würde. Egal, ob leiblich, adoptiert oder in Pflege - wenn du dein Kind zum ersten Mal siehst, weißt du: Wir sind jetzt die Welt für dieses Kind. Und er die unsere", sagt Sabine überzeugt. Umso schwieriger ist es, mit der Wahrscheinlichkeit, den Sohn oder die Tochter wieder abgeben zu müssen, umzugehen.
Laut Martina Reichl-Roßbacher bleiben aber die allermeisten dauerhaft bei den Pflegeltern. Denn auch, wenn sich die Situation in der Herkunftsfamilie stabilisiert und diese wieder für das Kind sorgen kann, ist die Rückkehr nicht selbstverständlich. Haben Betroffene einmal bei einer Pflegefamilie gelebt, seien die leiblichen Eltern nicht mehr zwingend die erste Wahl. "Als Kinder- und Jugendamt sind wir in erster Linie den Kindern verpflichtet. Das Kind selbst steht immer im Mittelpunkt", betont Reichl-Roßbacher.
Ausschlaggebend ist in einer solchen Situation daher, welche Beziehungen in der Zwischenzeit zu Pflegeeltern oder Geschwistern im selben Haushalt entstanden sind: "Viele Kinder haben niemals oder nur sehr kurz mit den leiblichen Eltern zusammengelebt. Ihre sozialen Eltern sind die Pflegeeltern. Es ist wichtig, dass die Betroffenen wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind und, insofern das möglich ist, eine Beziehung zu diesen haben. Aber das Gefühl: Das ist meine Mama - das ist etwas ganz anderes", sagt die Sozialarbeiterin. Auch, was das Kind selbst möchte, fließt daher maßgeblich in die Entscheidung mit ein.
Kommt das Kind tatsächlich zu den leiblichen Eltern zurück, muss es ein stückweit eine Garantie dafür geben, dass die Situation auch dauerhaft hält: "Das Schlimmste, was man mit Kindern und Jugendlichen machen kann, ist, sie zwischen den Familien und dem Jugendamt ein- und ausgehen zu lassen", sagt Reichl-Roßbacher. Die Familien erhalten daher nach der neuerlichen Zusammenführung regelmäßige Unterstützung durch Sozialarbeiter. Sie sollen dabei helfen, sich bewusst mit der Geschichte des eigenen Kindes auseinanderzusetzen, den Kontakt mit den Pflegeeltern aufrechtzuerhalten und dafür zu sorgen, dass das Kind auch die emotionale Versorgung erhalten kann, die es benötigt.
Dein Kind ist auch mein Kind
Frau S. hat erlebt, worauf alle Pflegeeltern sich vorbereiten, wofür aber kaum jemand bereit ist. Wenn sie heute, eineinhalb Jahre, seit Lukas nicht mehr bei ihr ist, von ihm spricht, muss sie sich selbst immer wieder korrigieren: "Mein Sohn - also, ihr Sohn." Auch Frau S. hatte sich immer eigene Kinder gewünscht. Als sich das nicht ergab, nahm sie Lukas bei sich auf. Er lebte neun Jahre lang bei ihr, bevor er wieder zu seiner leiblichen Mutter zurückkehrte.
Lukas Beziehung zu seinen leiblichen Eltern war schon immer ambivalent gewesen. Im ersten Jahr des Pflegeverhältnisses war die Mutter nicht greifbar gewesen, der Vater im Gefängnis. Später hatte Lukas Mutter wieder den Kontakt gesucht und es kam zu regelmäßigen Treffen, als sie die entsprechenden Auflagen - wie beispielsweise ihren konsequenten Drogenentzug - erfüllen konnte. Auch Lukas warfen diese Treffen immer aus der Bahn, erinnert sich seine Pflegemutter. Er was jedes Mal zwei bis drei Tage lang sehr aufgewühlt, testete seine Grenzen aus und war völlig unzugänglich.
"Ich glaube, er wusste selbst nicht, wo er hingehört. Jedes Mal, wenn die Sozialarbeiterin auf Hausbesuch bei uns war, zog er sein Spiderman-Kostüm an und versteckte sich, weil er Angst hatte, wieder zurückzumüssen. Manchmal fragte er mich nach den Treffen mit seiner Mutter: ,Hat mich die Mama überhaupt lieb? Gleichzeitig hatte er immer diesen starken Drang, auszuprobieren, wie es ist, bei seiner Mutter zu leben - vor allem, nachdem seine Schwester aus einer Wohngemeinschaft wieder zu ihr zurückgezogen war. Er war sich seiner Sache nicht so sicher, aber er wollte es unbedingt. Irgendwann versprach sie ihm, dass er zu ihr ziehen könne, sobald sie eine größere Wohnung habe.
Eine Woche vor der Übersiedelung ist es zu Hause komplett eskaliert. Lukas war kaum in Bahnen zu lenken. Er ist auf einen Vorsprung oberhalb der Küchenkasten geklettert. Dort oben saß er zwischen Weinen und Toben. Ich weiß nicht, wie lange er dort gesessen ist. Wahrscheinlich war es eine halbe Stunde, für mich war es eine halbe Ewigkeit. So konnte es nicht weitergehen. Ich habe die Sozialarbeiterin angerufen. Lukas kam für sechs Wochen in ein Krisenzentrum, bevor er tatsächlich zu seiner Mutter zog. Es war eine sehr mutige Entscheidung, die zur Gänze von ihm ausgegangen ist. Ich wusste, dass kein Weg daran vorbeiführt. Ich wusste, dass ich keine Chance habe."
Über den Verlust zu sprechen, fällt Frau S. auch heute noch sichtlich schwer. Zeitgleich mit den Tränen taucht am unteren Bildrand des Computers im lockdownbedingten Zoom-Gespräch eine weiße Hundeschnauze auf. "Obwohl er natürlich immer noch in meinem Leben ist, war es eine Art des Abschiednehmens", sagt sie leise. Lukas lebt bis heute mit seiner Mutter, deren Lebensgefährten sowie seiner Schwester zusammen.
Von der Holzeisenbahn zum Railjet
Es geht ihm gut, auch wenn das Leben, das er führt, ein sehr anderes ist, wie Frau S. sagt. Die beiden sehen einander regelmäßig, obwohl sich die Organisation der Treffen vonseiten der leiblichen Mutter manchmal schwierig gestaltet. Der Spieß hat sich umgedreht: "Ich glaube, das ist die Retourkutsche für die Besuchskontakte, als er bei mir war", sagt Frau S. Sie kann wieder schmunzeln.

Dass Pflegekinder von ihren Pflegeeltern adoptiert werden, passiert eher selten. Denn auch dafür bräuchte es die Einwilligung von Mutter und Vater. Deutlich mehr Menschen entscheiden sich dafür, wenn das Kind erwachsen wird: Nach dem 18. Geburtstag kann der betroffene junge Erwachsene selbst über eine Adoption entscheiden. "Pflegeeltern hören nicht einfach am 18. Geburtstag auf, Eltern zu sein. Hier entstehen Elternschaften, ohne dass das Jugendamt noch im Spiel ist. Das ist ein unglaublicher Mehrwert für unsere Gesellschaft. Viele Kinder schaffen es somit tatsächlich, ein Leben zu führen, das sich grundsätzlich von dem der leiblichen Eltern unterscheidet", sagt Reichl-Roßbacher.
Heute ist von Peters Start- und Lernschwierigkeiten nichts mehr zu bemerken. Entgegen allen Prognosen hat er eine vertiefende Mittelschule besucht und die Landwirtschaftsschule abgeschlossen. Seit September macht er eine Lehre im Bereich Maschinenbau und Metalltechnik bei den ÖBB. Damit ist ein absoluter Traum in Erfüllung gegangen - sowohl für seine Eltern als auch für Peter selbst. Der Stolz in den Stimmen und Gesichtern ist trotz der ruckeligen Internetverbindung deutlich im Raum zu spüren: "Seitdem er zu uns gekommen ist, wollte er schon immer bei der Eisenbahn arbeiten. Man hat uns immer gesagt, dass er nie eine Schule abschließen wird können. Und jetzt hat sich sein Traum erfüllt. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein."
Die Namen der Pflegeeltern und Pflegekinder wurden geändert.