Wer dieser Tage die schlängelnden Serpentinen der Bundesstraße erklimmt und kurz nach der letzten Kehre die mächtigen dunklen Granit-Wälle vor sich auftauchen sieht, den beschleicht ein mulmiges Gefühl. Natürlich, das war schon immer so. Die Mauern des einstigen Konzentrationslagers Mauthausen stehen hier, auf der Anhöhe über dem Ennstal, wo fast immer ein scharfer Wind pfeift, seit mehr als acht Jahrzehnten. Das Lager ist so originalgetreu erhalten wie kaum ein anderes. Und allein die schieren Ausmaße des Komplexes, der so vielen Menschen den Tod brachte, vermitteln eine schwer fassbare Düsternis. Nicht nur Esoteriker würden sagen: Dieser Ort hat eine dunkle Aura.
Vor Corona kamen hier rund 300.000 Besucherinnen und Besucher jährlich an. Rund jeder dritte Schüler und jede dritte Schülerin in diesem Land war mit etwa 14 Jahren einmal hier. Für manche kam der Besuch zu früh, für manche gerade richtig. Wie immer im Gedenkmonat Mai frequentieren dieser Tage besonders viele Schülergruppen das Gelände der KZ-Gedenkstätte. Und doch ist heuer alles etwas anders. "Man merkt schon", sagt Martin Dunst, "die aktuelle Lage macht etwas mit den jungen Menschen." Dunst arbeitet schon seit elf Jahren für die Gedenkstätte Mauthausen. Unzählige Schülergruppen führte er selbst durch den Ort des Schreckens. Inzwischen ist er für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Aber so viele Fragen wie jetzt, das bestätigen ihm alle Vermittler, stellen die Jugendlichen sonst eigentlich nie.
Als Israels Außenminister Yair Lapid Ende Jänner hier zu Gast war und am Internationalen Holocaust-Gedenktag eine beeindruckende Rede hielt - Lapids Großvater Béla Lampel wurde in einem der 40 Außenlager des KZ-Komplexes Mauthausen-Gusen ermordet -, da ahnte noch niemand, dass der jüdische Präsident der Ukraine nur einen Monat später die Weltgemeinschaft um Hilfe bitten würde, weil ein russischer Präsident namens Wladimir Putin gerade sein Land überfallen hat. Und das unter anderem damit rechtfertigte, die Ukraine "entnazifizieren" zu wollen.
Völkische Ideologie und Großmachtfantasien
Eine nach zwei Jahren Pandemie polarisierte Gesellschaft - die gab es auch im Jänner schon. Wachsende Sorgen darüber, was all die Zerwürfnisse auf Dauer im Zusammenleben der Menschen bewirken würden - die auch. Aber ein blutiger Angriffskrieg mitten in Europa? Mit allem, was zu einem solchen Gewaltakt dazugehört - großflächigen Zerstörungen, Massakern an der Zivilbevölkerung, Folterungen und Vergewaltigungen? Das war im Jänner noch für niemanden vorstellbar. Das "niemals wieder", sagt Dunst, "ist uns ganz offensichtlich nicht gelungen".

Natürlich, der Holocaust, seine unmenschlich-perfide Ideologie, die industrielle Vernichtung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit - und wird es hoffentlich für immer bleiben. Und doch werden die aktuellen Ereignisse zwischen Butscha und Mariupol wohl in einigen der Reden vorkommen, wenn sich am Sonntag wieder internationale Delegationen in Mauthausen versammeln, um der Ermordeten zu gedenken. Denn wieder treiben völkische Ideologie und verquere Großmachtfantasien einen in einen größenwahnsinnigen Angriffskrieg, in dem es nichts zu gewinnen gibt. Wieder werden zivile Opfer abgeschlachtet. Wieder Generationen traumatisiert.
Tabuisierung von sexueller Gewalt an Frauen
Wer sich dieser Tage durch die Anlage führen lässt, durch den "Raum der Namenlosen", wo die Namen aller im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern Ermordeten auf leuchtende Glasplatten gedruckt wurden, durch das Krematorium und durch die Gaskammer, dem stockt der Atem also vielleicht noch ein kleines bisschen mehr als sonst. Und die Führung durch das Lager offenbart dem Besucher dieser Tage auch eines: Wie ähnlich sich die Geschichten von Krieg, Totalitarismus und menschlicher Grausamkeit immer wieder sind - trotz der Einzigartigkeit des Holocausts.
Zeigt Vermittler Dunst auf eine der Holzbaracken auf dem ehemaligen KZ-Gelände und berichtet, dass hier einst ein "Lagerbordell" mit weiblichen Gefangenen eingerichtet war, das höhergestellte Häftlinge mittels "Prämienscheinen" frequentieren konnten, dann tauchen im Kopf auch Bilder aus dem ukrainischen Butscha auf. Wo laut Berichten etliche Frauen in Wohnungen festgehalten wurden, um von russischen Soldaten vergewaltigt zu werden. Oder aus dem Bosnien-Krieg, wo sogenannte "Frauenräume" nicht etwa dem Schutz der Frauen dienten, sondern der Willkür höherer Militärs, die sie behandelten wie Gegenstände. Sexuelle Gewalt an Frauen, so lernt man auch im Jahr 2022 wieder, ist Teil jedes Krieges, jedes totalitären Regimes. Und wird doch immer noch spürbar mehr tabuisiert als körperliche Gewalt an Männern. Die Zwangsprostituierten von Mauthausen wurden gar erst in den 1990er-Jahren offiziell als Kriegsopfer anerkannt.
Wer man ist und an wen man gerät
Wenn Dunst von den Kapos erzählt, Funktionshäftlingen, die oft als verurteilte (Gewalt-)Verbrecher ins KZ geholt wurden, um andere Häftlinge zu beaufsichtigen, dann lernt man von Neuem: In jeder zivilisatorischen Ausnahmesituation, ob im Krieg oder im KZ, hing die eigene Situation nicht nur davon ab, wer man war, sondern auch davon, an wen man geriet. An einen Menschen, der sich innerhalb seiner Möglichkeiten bemühte, die Lage seiner Untergebenen zumindest ein wenig erträglicher zu gestalten. Oder an einen Charakter, dem es noch sadistische Freude bereitete, seine neue Machtstellung mit willkürlicher Gewalt und Erniedrigungen auszunützen. Denn die Kapos, die mit ihrer Stellung auch Privilegien wie bessere Schlafplätze erwarben, hatten quasi das alleinige Sagen in den Baracken. Die Häftlinge waren ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

200.000 Menschen waren in den rund sieben Jahren seines Bestehens im KZ Mauthausen inhaftiert. Es war deklariert als Arbeitslager der schärfsten Stufe drei. Rund die Hälfte der Insassen starb innerhalb der Mauern. In den großen nationalsozialistischen Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau wurde ein noch deutlich höherer Anteil ermordet. Inhaftiert waren in Mauthausen zunächst weniger Juden als in manch anderem KZ-Komplex. Dafür viele politische Gegner, Kommunisten, Sozialdemokraten, Schwule, Lesben oder Zeugen Jehovas.
Mauthausens SS-Soldaten in der Fußball-Regionalliga
Direkt vor den Lagermauern befand sich ein Fußballplatz mit Zuschauer-Tribünen. Dort wurde nicht nur Exerzieren geübt. Eine Auswahl an SS-Lagersoldaten in weißen Trikots absolvierte hier jeden zweiten Sonntag Spiele der Regionalliga - und wurde 1944, kurz vor dem verlorenen Krieg, unter begeistertem Beifall der anwesenden Zuschauer aus der Region noch einmal Herbstmeister. Das Leben der Soldaten und das Sterben der Häftlinge lagen aber eng beieinander: Direkt neben dem Fußballplatz befand sich das sogenannte "Sanitätslager" - ein typischer NS-Euphemismus. "Wer nicht mehr arbeiten konnte", sagt Dunst, "wurde hier entsorgt, muss man fast sagen." Die anwesenden Ärzte hätten an den Sterbenden noch sinnlose "medizinische Versuche" durchgeführt. "Man wusste eigentlich auch zuvor schon: Das Injizieren von Benzin ins Herz wird tödlich enden."
Und wer sich die Fotos der ehemaligen SS-Führungsriege im Lager Mauthausen zeigen lässt, die Gesichter in der Sonne glänzend und mit breitem Grinsen, der sieht: "Das waren Menschen", wie Dunst es formuliert. "Und nicht quasi außerirdische Ungeheuer wie manchmal in der Darstellung des Hollywood-Kinos." Überhaupt habe es Schwarz und Weiß im Lager oft nicht gegeben, stattdessen viele Zwischentöne. "Nicht jeder SSler war ein Sadist", sagt Dunst.

Während etwa in martialischen TV-Dokumentationen über das Dritte Reich jahrzehntelang fast ausschließlich auf die monströse Maschinerie der Nationalsozialisten fokussiert wurde, wagten sich erst viel später etwa Filmemacher wie Stefan Ruzowitzky auch an die Darstellung anderer Aspekte der NS-Verbrechen. In seinem Oscar-prämierten KZ-Drama "Die Fälscher" wird etwa der Lagerkommandant auch als treu sorgender Familienvater gezeigt, der für einen Häftling Sympathien entwickelt - und gleichzeitig den Tod Hunderttausender zu verantworten hat. Während die alten Doku-Darstellungen mitunter den Eindruck von weit entfernten Systemen vermitteln, die heute unter keinen Umständen mehr möglich wären, zeigen neuere Annäherungen an Nationalsozialismus und Holocaust häufig auch: Es sind Menschen, wie sie auch heute unter uns sind, die damals monströse Verbrechen begangen.
"Ruhe in Frieden, Großvater, du hast gewonnen"
Der Aussage, die Bevölkerung hätte nicht wissen können, was sich hinter den Mauern Mauthausens abspiele, widerspricht Dunst indessen entschieden. Die meisten Häftlinge kamen mit Zügen an und wurden vom rund 20 Gehminuten entfernten Bahnhof Mauthausen per Fußmarsch ins Lager getrieben - vorbei an Schule, Gemeindeamt und zahlreichen Gehöften. "Man hat zehntausende Menschen hinaufgehen sehen", sagt der Vermittler. "Aber nie ist einer wieder hinuntergekommen." Im ans Lager angeschlossenen Steinbruch arbeiteten tagsüber zudem etwa auch zivile Steinmetze aus der Gegend, die die Bedingungen für die Häftlinge mit eigenen Augen sahen. Die Propaganda der Nationalsozialisten habe den Menschen allerdings vermittelt, bei KZ-Insassen handle es sich um Straftäter. "Und die Frage, was ich als Einzelner gegen ein totalitäres System unternehmen kann, bleibt natürlich", sagt Dunst.
Wie lange Putins Angriffskrieg in der Ukraine noch dauern wird, wie viel Zerstörung, wie viele Tote und Traumatisierte er noch produzieren wird, ist heute völlig unabsehbar. Die Geschichte von Mauthausen als KZ ist dagegen längst abgeschlossen. Ein eindringliches Bild dafür lieferte Israels Außenminister Lapid bei seiner Rede in der Gedenkstätte im Jänner - mit Verweis auf seine israelische Heimat und seinen in Mauthausen ermordeten Großvater: "Die Nazis dachten, sie wären die Zukunft und Juden nur noch auffindbar in einem Museum", sagte Lapid. "Stattdessen ist der jüdische Staat die Zukunft - und Mauthausen ist ein Museum. Ruhe in Frieden, Großvater. Du hast gewonnen."