Der Blick in die Zukunft verheißt wenig Gutes: Österreichs Exportquote lag 2021 bei rund 57 Prozent des BIP, das entsprach rund 230 Milliarden Euro; die EU-27 exportierten vergangenes Jahr Werte von rund 2.180 Milliarden. Die Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen in die weite Welt ist ein existenzieller Pfeiler des europäischen Wohlstandsmodells.

Das Problem ist: Dieses Modell wird durch die aktuellen Entwicklungen gefährdet. Durch den Krieg in der Ukraine und seine Folgen für Inflation und Energiekosten, den Protektionismus in den USA und China, die Neuausrichtung der Globalisierung. Die "Wiener Zeitung" traf sich mit sechs Experten, um über die Zukunft Europas zu diskutieren.

Europa durchlebt turbulente Zeiten. Die Aussichten für die Zukunft sind umstritten. Einfach nur ein "Weiter so" ist jedenfalls keine Option. Im Bild (v. l.): Hanappi, Raidl, Hämmerle, Picek, Hagen, Aiginger, Leitl. - © Meinrad Hofer
Europa durchlebt turbulente Zeiten. Die Aussichten für die Zukunft sind umstritten. Einfach nur ein "Weiter so" ist jedenfalls keine Option. Im Bild (v. l.): Hanappi, Raidl, Hämmerle, Picek, Hagen, Aiginger, Leitl. - © Meinrad Hofer

"Wiener Zeitung": Europa droht, der große Verlierer der aktuellen geopolitischen, technologischen und energiepolitischen Entwicklungen zu werden. Ist dieses Szenario realistisch?

Elisabeth Hagen: Europa hat Probleme, das zu leugnen wäre lächerlich, aber diese sind nicht so arg, wie jetzt viele behaupten. Der US-Ökonom Nouriel Roubini, der berühmt für seine apokalyptischen Prognosen ist, argumentiert, dass wir vor der "Mother of all Economic Crisis" stehen. Ich dagegen bin eine unverbesserliche Optimistin, deshalb sehe ich die aktuelle Situation zuerst als Handlungsauftrag: in der Klimakrise, die ich nach wie vor für das größte Problem erachte, in Sachen Inflation, wo es hoffentlich schon bald besser wird, bei der Energieversorgung, die wiederum mit der Inflation zusammenhängt. Das einzig Positive an diesem schrecklichen Krieg gegen die Ukraine ist, wenn man das so sagen kann, der Umstand, dass die Energiepreise steigen und dies zum noch schnelleren Umstieg auf erneuerbare Energieträger zwingt.

Elisabeth Hagen war bis 2019 Geschäftsführerin des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsforschung (wiiw). - © Meinrad Hofer
Elisabeth Hagen war bis 2019 Geschäftsführerin des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsforschung (wiiw). - © Meinrad Hofer

Claus Raidl: Tut mir leid, aber dieser Analyse kann ich nicht zustimmen. Meine Sorge ist, dass die EU in ihrer derzeitigen Struktur nicht überleben wird. Mit Politikern wie Ungarns Viktor Orban und Jarosław Kaczynski in Polen lässt sich keine Gemeinschaft aufbauen, beide haben völlig andere Werte. Was wir hier erleben, ist ein neoliberaler Staatenegoismus der Sonderklasse, jeder ist nur auf seine eigenen Interessen und Vorteile erpicht. Das gilt auch für Österreich. Ich befürchte, dass wir uns in Europa zu einer Zollunion zurückentwickeln, ohne Währungs- und ohne politische Union. Verhindern lässt sich das nur, wenn Staaten mit Spitzenpolitikern wie Orban und Kaczynski aus der EU ausgeschlossen werden. Von alleine werden sie nicht austreten, weil sie finanziell enorm profitieren. Europa braucht eine andere Struktur und anderes Spitzenpersonal: Die Besten müssen an die Spitze wollen, das ist derzeit nicht der Fall. Deshalb werden wir auch die großen Herausforderungen wie die Klimakrise nicht bewältigen. Und ich bezweifle, ob wirklich alle so entschlossen die Inflation bekämpfen: Angesichts der Schuldenquote vieler Staaten hilft eine höhere Inflation bei der Entschuldung der Staaten.

Claus Raidl war Manager in der Stahlindustrie und von 2008 bis 2018 Präsident der Oesterreichischen Nationalbank. - © Meinrad Hofer
Claus Raidl war Manager in der Stahlindustrie und von 2008 bis 2018 Präsident der Oesterreichischen Nationalbank. - © Meinrad Hofer

Krisen waren in der Vergangenheit verlässlich der stärkste Integrationsmotor für die EU. Ist es damit jetzt vorbei?

Christoph Leitl: Leider war Europa nur zu Beginn, als es darum ging, den Frieden aufzubauen und einen Schutzwall gegen den Kommunismus zu errichten, ein Projekt der Vernunft und der Werte. Ein Zyniker würde sagen, das Problem der Gegenwart sei eine zu lange Friedensperiode. Deshalb macht uns auch der Krieg Russlands so fassungslos. China verfolgt beinhart seine Interessen, die USA genauso, aber was ist mit der EU? Was sind überhaupt Europas Interessen? Niemand formuliert diese gemeinsamen Interessen, übrig bleiben egoistische Nationalismen. Dass in der Weltpolitik derzeit Egoismus auf Kosten von Solidarität das Sagen hat, muss uns nachdenklich stimmen, weil eigentlich Kooperation und Solidarität Europas Werte verkörpern. Doch die müssten wir zuerst intern umsetzen, das bedeutet: Weg mit dem Einstimmigkeitsprinzip in zentralen Fragen, das blockiert nur und verhindert Lösungen, zudem ist es undemokratisch, weil es nationale Regierungen fast dazu zwingt, ihr Veto einzulegen, um zuhause auf Kosten der Gemeinschaft zu punkten. Österreichs Blockade des Schengenbeitritts von Rumänien und Bulgarien aus Gründen, die nichts mit Schengen zu tun haben, ist ein Paradebeispiel.

Christoph Leitl war von 2000 bis 2018 Präsident der Wirtschaftskammer Österreich. - © Meinrad Hofer
Christoph Leitl war von 2000 bis 2018 Präsident der Wirtschaftskammer Österreich. - © Meinrad Hofer

Haut die EU überhaupt keine Stärken vorzuweisen?

Karl Aiginger: Doch, von allen globalen Machtzentren ist die EU derzeit jene Region mit dem besten Modell - und wir haben auch die besten Chancen, dieses Modell auf andere Staaten auszuweiten.

Hardy Hanappi ist Nationalökonom, Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhl für Politische Ökonomie der Europäischen Integration und Professor an der TU Wien. - © Meinrad Hofer
Hardy Hanappi ist Nationalökonom, Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhl für Politische Ökonomie der Europäischen Integration und Professor an der TU Wien. - © Meinrad Hofer

Die EU als globales Machtzentrum?

Aiginger: Wenn man darunter eine große ökonomische Macht versteht, dann ist die EU sehr wohl eine Weltmacht. Unser Bruttoinlandsprodukt ist größer als das Chinas und circa gleichgroß wie das der USA. Als ich noch ein Student war, explodierten in Südtirol die Bomben, gleich hinter Wien ging der Eiserne Vorhang hoch, die Kroaten waren maximal geduldet und die Slowenen überhaupt verhasst, jedenfalls in Kärnten. Heute ist das alles Geschichte, und jedes Mal war dafür die EU verantwortlich. Was ich sagen will, ist: Europa hat in den vergangenen Jahrzehnten bewiesen, dass seine Idee von wirtschaftlicher und politischer Integration funktioniert. Das gilt auch für Polen und Ungarn, Orban kann sich nur noch mit Tricks an der Macht halten, weil er die Mehrheit der Bevölkerung schon verloren hat. Und wieder hat ein Krieg dabei entscheidend mitgeholfen, in diesem Fall Russlands Überfall auf die Ukraine. Das gilt eigentlich auch für den Balkan, hier haben wir nur den Fehler gemacht, die Staaten zu lange warten zu lassen.

Oliver Picek ist Chefökonom des ansässigen sozialliberalen Thinktanks Momentum-Institut. - © Meinrad Hofer
Oliver Picek ist Chefökonom des ansässigen sozialliberalen Thinktanks Momentum-Institut. - © Meinrad Hofer

Raidl: Zehn Jahre warten die Westbalkan-Staaten jetzt schon!

Aiginger: Ja, das ist ein Fehler. Europa braucht seine Nachbarn. Das gilt vor allem auch für Afrika. Entweder wir machen etwas mit Afrika, oder die Afrikaner übernehmen Europa. In der EU gibt es Völkerwanderungen, die wir nur nicht als solche bezeichnen: In Bulgarien ist die Hälfte der Jungen in andere EU-Staaten weggezogen, viele davon auch nach Österreich, Gottseidank, weil wir sie brauchen. Aber Staaten wie Bulgarien können nicht leer bleiben. Kurz gesagt: Die EU könnte eine Führungsrolle in der Welt übernehmen, und zwar eine partnerschaftliche.

Karl Aiginger ist Wirtschaftsforscher und war von 2005 bis 2016 Leiter des Österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). - © Meinrad Hofer
Karl Aiginger ist Wirtschaftsforscher und war von 2005 bis 2016 Leiter des Österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo). - © Meinrad Hofer

Dauerhaft höhere Energiekosten drohen mittel- und langfristig die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU zu gefährden.

Oliver Picek: Die vergangenen dreißig Jahre waren extrem ruhig, jedenfalls für Westeuropa. Die Globalisierung hat dafür gesorgt, dass die Union billige Produkte aus China importieren und hochwertige Güter exportieren konnte. Energie war billig, Inflation niedrig, Digitalisierung hat für Dynamik gesorgt, die Wirtschaft wuchs, vielleicht nicht für alle gleich stark, aber immerhin, und die EU hat ihre Integration vorangetrieben. Damit ist es jetzt vorbei und die Sorge ist, dass die Zukunft in diesem Jahrhundert dank des sich zusehends schneller vollziehenden Klimawandels noch sehr viel unruhiger werden könnte - bis hin zur Rückkehr von dauerhaften Missernten und großen Hungersnöten.

Welche Konsequenzen wird das aus Ihrer Sicht haben?

Picek: Wir müssen wieder als Kollektive, als Gemeinschaft handlungsfähig werden. Die Ära des individuellen Liberalismus oder liberalen Individualismus, wo es verpönt war, jemandem etwas zu verbieten, geht dem Ende zu. Das zeichnet sich jetzt schon ab, auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Wir werden uns wieder mehr Regeln für unser Zusammenleben geben müssen. Die kollektive Aufgabe lautet, uns von den fossilen Energieträgern zu verabschieden. Ein schneller Shoppingtrip nach Barcelona mit dem Flieger übers Wochenende wird nicht mehr gehen, aber noch will das keiner der politischen Verantwortlichen sagen.

Europas Wohlstand fußt auf seiner Exportindustrie. Aber wohin werden wir exportieren, wenn sich die großen Handelsblöcke mitsamt ihren Lieferketten entflechten, wenn China und USA immer protektionistischer agieren? Ohne Globalisierung und mit dauerhaft höheren Energiepreisen wird Europa Wohlstand verlieren.

Hardy Hanappi: Das sind wichtige Fragen, aber es geht darum, diese in einem "Big Picture" zusammenzufassen, das auch als Handlungsanleitung dienen kann. Ich gestehe: Ich teile den Pessimismus des "Economist" nicht, weil ohne jeden Optimismus verliert der Mensch die Kraft zum Handeln. Richtig ist aber, dass wir in der EU ein riesiges Strukturproblem haben. Europa war zweifellos ein, wenn auch nicht der einzige Nutznießer der Globalisierung. Wenn wir diese jetzt zurückschneiden, büßen wir auch an Wohlstand ein. Ich sehe darin aber nur einen vorübergehenden Schritt zurück. Europa muss lernen, seine Diversität besser zu nutzen, auch in Richtung einer verbesserten Governance. Die aktuellen Krisen könnten dabei ein Hebel für neue Lösungen sein, weil sie fast alle eine globale Dimension aufweisen.

Raidl: Richtig, nur gibt es niemanden, die global verbindlich die nächsten Schritte etwa beim Klimawandel vorgeben.

Hanappi: Ja, trotzdem sind Lösungen möglich, das sollte uns Zuversicht geben.

Leitl: Es ist gut, dass wir jetzt von unserer eurozentrischen Problemsicht wegkommen. Fast alle Probleme lassen sich nur durch globale Zusammenarbeit angehen, das gilt allen voran für die Klimakrise, wo Europa nur 9 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes produziert. Die G20, die Gruppe der weltweit größten Industrie- und Schwellenländer plus EU, könnten hier zumindest informell wesentliche Pflöcke einschlagen. Wenn die EU-27 hier nicht mit einer Stimme sprechen, werden wir nicht gehört, weil auch die größten EU-Staaten zu klein und unbedeutend sind.

Worauf wird der Wohlstand Europas in Zukunft beruhen?

Leitl: Auf unserer Kreativität, Qualifikation, Kooperation, das sind die Werte, die Europa im Blut liegen.

Picek: Auf absehbare Zeit werden die USA und China tatsächlich um die Vorherrschaft ringen, doch was dann kommt, ist offen - Indien wird schon in Kürze mehr Einwohner als China haben. Betroffen von dieser De-Globalisierung wird aber primär die militärisch relevante Spitzentechnologie sein. Für die meisten anderen Güter wird die Globalisierung mehr oder weniger weitergehen, werden die Handelsströme halbwegs intakt bleiben, auch wenn regionale Autonomie und Nachhaltigkeit mehr Augenmerk erhalten.

Hagen: Wir brauchen ein Revival pragmatischer Lösungen. Österreich hat damit in den großen Umbrüchen nach 1945 gute Erfahrungen gemacht. Sowohl in der Wirtschaftskrise der 1970er und 80er als auch in den Jahren vor dem EU-Beitritt 1995 hatten viele Menschen viel zu verlieren. In beiden Fällen hat sich die Sozialpartnerschaft zusammengesetzt und gemeinsame Offensiven gestartet. Das würde ich mir auch heute wünschen, statt oft nur zu blockieren, wie aktuell etwa die Wirtschaft beim Klimaschutzgesetz oder dem Ausbau der Erneuerbaren.

Leitl: Ich kann keine Blockaden erkennen, sondern plädiere für realistische Ziele und gegen Wunschdenken, wo eh jeder weiß, dass wir die Vorgaben nicht einhalten können.

Manche politischen Akteure sehen diese Krisen als Gelegenheit zum großen Umbau unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells. Vor allem die Idee des Markts steht unter Druck.

Hanappi: Wir müssen die richtigen Lektionen aus den Krisen ziehen. Der Energiekrise zeigt uns, dass wir mitunter auf die falschen Marktmodelle setzen. Es gibt nicht "den" Markt, sondern unendlich viele unterschiedliche Marktmechanismen, insbesondere bei solchen Infrastrukturbereichen wie Energie. Wir müssen dabei bei den verschiedenen quantitativen und qualitativen Bedürfnissen eines Gebildes wie der Union ansetzen, etwa bei Bildung, Gesundheit, Telekommunikation und so weiter. Ausgehend von diesen Bedürfnissen müssen wir dann einen Marktmechanismus entwickeln, der diesen am besten nahekommt. Märkte sind Lernprozesse, keine naturgegebenen Bedingungen. Auch Demokratie muss sich zu einem solchen Lernprozess entwickeln, mit dem wir ständig neue Fragen lösen können, etwa was die Verteilung von Flüchtlingen angeht. Dazu brauchen wir aber auch neue Begrifflichkeiten, weil die alten uns blockieren.