Ein "ganz normaler" Soldat? "Feldpostbriefe eines Wiener Unteroffiziers" lautet der Titel eines neuen Buches, herausgegeben von Martina Fuchs und Christoph Rella, das die Kriegserfahrungen des Schlossers Karl Wintereder zum Inhalt hat. Die Korrespondenz des Unteroffiziers ist abgedruckt, kommentiert und mit zahlreichen Fußnoten versehen. Die letzten Briefe hat Wintereder aus Stalingrad geschrieben, kurz bevor dort die 6. Armee vernichtet wurde. Die "Wiener Zeitung" hat mit Historikerin und Co-Herausgeberin Fuchs über Selbstzeugnisse gesprochen.
"Wiener Zeitung": Tagebücher und Feldpostbriefe sind wichtige Quellen für Historiker. Worin aber besteht Ihrer Meinung der konkrete Gewinn für die Geschichtsforschung?
Martina Fuchs: Mit den Ego-Dokumenten beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft seit den 1970er Jahren. Zunächst handelte es sich um Tagebücher und Briefe - meistens von prominenteren Personen. Zum Glück hat sich die Forschung dann in die Richtung entwickelt, dass man sich auch um "No-Names" kümmert. Hier kann davon ausgegangen werden, dass die Tagebücher und Briefe nicht für eine Veröffentlichung verfasst worden sind. Ein Johann Wolfgang von Goethe etwa hat damit gerechnet, dass seine Briefe später veröffentlicht werden. Dann schreibt man so einen Brief natürlich anders, als wenn er nur für die Familie geschrieben wird. Bei den Kriegsmemoiren hat man sich lange nur auf die hohen Dienstränge gestürzt, die Generäle, weil die den Kriegsverlauf beurteilen konnten. Die Generalsmemoiren aus dem Zweiten Weltkrieg, die haben es sich natürlich zurechtgebogen und ihr Handeln im Nachhinein so dargestellt, dass sie immer schon im Recht waren. Ich finde es toll, dass man sich jetzt auch um die Zeugnisse der ganz einfachen Soldaten kümmert, die mit Alltagsproblemen kämpfen. Die zu ihrer Post, ihrer Ernährung, ihrer Munition kommen müssen. Und die Frage: Wie gehen die mit dieser Ausnahmesituation um?

Die Feldpostbriefe im Zweiten Weltkrieg waren ja die einzige Möglichkeit, mit der Familie Kontakt zu halten . . .
Das ist so ein Phänomen dieser Feldpostbriefe, deren Zahl sich im Ersten Weltkrieg explosionsartig vervielfacht hat. Und man muss sich überlegen: Wie viele dieser Millionen Soldaten waren es denn gewohnt, Briefe zu schreiben? Und wie viele waren es gewohnt, ihre Gefühle auszudrücken, noch dazu in schriftlicher Form? Das war für viele Männer und für viele an der sogenannten Heimatfront ein großer Schritt.
Aber in diesen Feldpostbriefen steht ja auch nicht drin, wie sich die Soldaten wirklich gefühlt haben.
Es ging darum, die Angehörigen in Sicherheit zu wiegen, zu beruhigen. Man sieht das in unserem Buch am Beispiel Karl Wintereders, der in Frankreich verwundet worden ist. Je weiter das Ereignis in die Ferne rückt, desto mehr erfährt man, wie gefährlich diese Verletzung doch war. Es war eine schlimmere Verwundung, als er das am Anfang darstellt. Über den Kriegsverlauf will er nicht schreiben, weil er das ja eh selbst erlebt und nicht wieder aufwärmen will, wie er seiner Schwester schreibt.
Zur Quellenkritik: Worauf sollte bei diesen Selbstzeugnissen besonders geachtet werden? Sie haben die Briefe Wintereders ja mit einer Vielzahl von erklärenden Fußnoten versehen.
Ich würde mir zunächst ansehen, ob das Dokument mit dem tatsächlichen Kriegsverlauf übereinstimmt. Dann muss man ein wenig in die Militärgeschichte einsteigen, schauen, zu welcher militärischen Einheit der Briefschreiber gehörte: War diese Division zu der Zeit dort, wo der Schreiber vorgibt, gewesen zu sein? Auf diese Weise kann man die Quellen zu Beginn verifizieren. Bei den ganz einfachen Soldaten ist es schwierig, weil über die in den Archiven nichts zu finden ist. Bei den höhren Rängen besteht die Chance, den Personalakt zu finden. Da Wintereders Einheit in Stalingrad untergegangen ist, gibt es in deutschen Archiven einen einzigen Bestand dazu, und das ist die Verlustliste. Da ist es schwierig, direkt-biografisch zu arbeiten. Da muss man sich mit der allgemeinen Geschichte der Einheit, in der er gedient hat, behelfen. Ein ganz wichtiges Thema, das wird aus anderen Korrespondenzen ersichtlich, ist die Verleihung von Auszeichnungen wie dem Eisernen Kreuz. Die, die es noch nicht haben, schämen sich. Wintereder ist mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse dekoriert worden, erwähnt es aber nie.
Könnte man auf Basis dieser Briefe nicht auch eine Geschichte der Gefühlswelten schreiben? Wie sich die im Lauf der Geschichte verändern?
Was jetzt zur Forschung dazu kommt, da bin ich aber nicht eingearbeitet, ist die Männlichkeitsforschung. Hier fällt bei Wintereder auf, dass er seine Gefühlswelt, was Frauen betrifft, seinen Eltern gegenüber relativ offen darlegt. Dass er das in den 1940er Jahren macht, finde ich außergewöhnlich. Das spricht für ein harmonisches, vertrauensvolles Familienklima. Die Familie dürfte intakt gewesen sein.
Wäre dann nicht die Bildung einer Forschungsgruppe, bestehend aus Psychologen, Gender-Forschern und Historikern, ideal?
Das war auch eines unserer Motive, die Briefe in gedruckter Form herauszugeben. Denn je mehr davon greifbar ist, desto größer ist die Quellenbasis für Vergleiche. Da ist ein Fall wie Wintereder von Interesse, weil von ihm doch eine Serie an Briefen erhalten ist. Oft ist ja von einem Soldaten nur ein einziger Brief erhalten. Damit kann man dann natürlich nur sehr wenig anfangen.
Worin liegt der Vorteil, wenn man sich zu zweit an ein derartiges Projekt macht, so wie Sie es getan haben?
Das ist immer ratsam, weil dann unterschiedliche Zugänge eingebracht werden. Es ist auch immer gut, wenn jemand dabei ist, der Editionserfahrung hat. Die bringe ich für Quellen aus dem 16. Jahrhundert mit, da geht man mit den Dingen schon anders um. Oft wird etwa die Rechtschreibung, zum Beispiel die "dass"-Schreibung, verändert, was editionstechnisch nicht geht und die Sache entwertet.