Pripyat. An den ausgehöhlten Plattenbauten mit den zerborstenen Fensterscheiben sind noch heute Hammer und Sichel zu stehen, die Fassade bröckelt. Die Hauptstraße ist noch immer nach Lenin benannt. Und um den Stadtplatz stehen die Ruinen eines "Kulturpalastes", des Hotel "Polissja" und eines Restaurants - ein Hauch vom Sowjet-Stil der 80er ist noch da.
Würde die vier Kilometer vom Katastrophenreaktor Tschernobyl entfernte Stadt Prypjat nicht in der militärischen "Sperrzone" liegen, wäre sie wohl das größte Museum des real existierenden Sozialismus.
Prypjat wurde im Jahr 1970 errichtet, um den Arbeitern des Atomkraftwerks eine Heimat zu bieten. Bis zu dem Tag, an dem Tschernobyl weltweit traurige Berühmtheit erlangte, zählte Prypjat 49.000 Einwohner. Einer von ihnen war Andrej Gluchow, der nach dem Studium in Moskau in die Stadt übersiedelte, um im Atomkraftwerk zu arbeiten. "Die Infrastruktur war überdurchschnittlich gut. Ich konnte mich nie beschweren", erinnert sich der Mann.
"Wir bleiben hier"
Dann kam der 26. April 1986, der mit einem Schlag alles veränderte. "Wir nannten es einen Unfall. Wir glaubten nicht, dass etwas ernstes passiert ist", erzählt er. Er selbst, schildert Gluchow, habe am Vortag noch Dienst im Kontrollzentrum des Reaktors versehen. Am Tag selbst habe er nicht dort gearbeitet. Als ihm klar wurde, dass in dem Kraftwerk etwas passiert war, habe er seinen Chef angerufen und gefragt, was zu tun sei. "Die Antwort war: Wir bleiben hier."
Weil die sowjetische Führung den Super-GAU vertuschen wollte, wurde der Befehl zur Evakuierung der Bevölkerung von Prypjat erst 36 Stunden später gegeben. Die Einwohner wurden angehalten, nichts mitzunehmen. Ihnen wurde eine baldige Rückkehr versichert, offiziell handelte es sich um eine "vorübergehende Evakuierung". Als einige Einwohner Monate und Jahre später tatsächlich wieder in ihre Häuser zurückkehren wollten, waren viele bereits geplündert.
Auf die Frage, wie viele Kollegen Gluchow durch die Tschernobyl-Katastrophe verloren habe, hält er inne. "Das ist eine schwierige Frage. Es waren nicht Kollegen, sondern Freunde", setzt er nach einem Seufzer an. Von einem Arbeiter, der zur Zeit der Katastrophe im Reaktor war, habe man den Leichnam nie gefunden. Ein anderer sei unmittelbar an den Folgen von Verbrennungen verstorben, nachdem die Hitze im Primärkreislauf bis zu 270 Grad betrug. "In den zwei bis drei Monaten sind 29 weitere gestorben", sagt Gluchow. Heute lebt der Zeitzeuge der Atomkatastrophe in Washington und ist für den US-Baukonzern Bechtel tätig, der in Tschernobyl an der geplanten Errichtung einer neuen Mega-Schutzhülle beteiligt ist.
Von der einstigen Atomkraft ist nur noch die Strahlung in Prypjat geblieben, auf dem heruntergekommenen "Kulturpalast" steht noch die Aufschrift "Energetik". An die Atomenergie glaubt der Techniker Gluchow trotzdem noch. "Die wichtigste Lektion von damals ist, dass eine Sicherheitskultur vorherrschen muss. In der Sowjetunion hat das nicht existiert. Wir waren nur angehalten, Kilo- und Megawatt zu produzieren."
1986 waren die Einwohner in Prypjat noch durchschnittlich 26 Jahre alt. Heute fällt in der ganzen Sperrzone rund um das Kraftwerk die Abwesenheit von jungen Menschen auf. Nur noch die Reste eines Rummelplatzes lassen erkennen, dass in den grauen Betonklötzen auch einmal Leben herrschte. Ein großes Riesenrad mit gelben Kabinen und eine Autodrombahn zeugen noch von besseren Zeiten.