Siders/Wien.

Ein Wrack: Der zerquetschte Schüler-Reisebus lässt das Ausmaß des Unglücks in der Schweiz erahnen. - © AP
Ein Wrack: Der zerquetschte Schüler-Reisebus lässt das Ausmaß des Unglücks in der Schweiz erahnen. - © AP

Unverständnis, Informationsbedürfnis, Trauer und Verzweiflung: Dieses Wechselbad der Gefühle durchleben vermutlich die Angehörigen jener 28 Todesopfer, die bei dem schweren Busunglück im Schweizer Kanton Wallis am Dienstagabend ums Leben gekommen sind. Das Tragische daran: 22 der Opfer sind Kinder - durchschnittlich zwölf Jahre alte Schüler aus Schulen in Heverlee nahe Brüssel und Lommel, ebenfalls in Belgien.

"Die erste Frage ist die Frage nach dem Warum", sagt Monika Mayer-Stickler, organisatorische Leiterin der psychosozialen Dienste und Krisenintervention im Österreichischen Roten Kreuz. "Aber gerade diese Frage kann man nicht beantworten." Daher versuchten die Betroffenen, so viele Informationen wie möglich zum Unfallhergang zu erlangen - ein Weg, um die Tragödie zu begreifen und letztendlich zu akzeptieren.

Mayer-Stickler kennt viele Reaktionen, wie Opfer-Angehörige mit diesem großen Loch, das ein Unglück in ihr Leben reißt, umgehen. "Die einen wirken so, als würden sie es locker nehmen, die anderen werden aggressiv oder sind zutiefst verzweifelt. Es kommt ganz darauf an, wie sie mit Problemen umgehen und fähig sind, vor anderen Gefühle zu zeigen." Nach den Schuldigen und juristischen Antworten werde in dieser ersten Phase noch nicht gesucht - die emotionale Aufarbeitung stehe an vorderster Stelle.

In jedem dieser Fälle bietet das Kriseninterventionszentrum seine Hilfe an - allerdings stets auf freiwilliger Basis. "Und wenn jemand kurz nach dem Unglück noch nicht will oder kann, geben wir ihm unsere Nummer - die meisten melden sich innerhalb einer Stunde", sagt Mayer-Stickler. Aufgabe der Teams sei es, die Zeit, bis das soziale Netz greift, zu überbrücken. Bis die Ressourcen in Familie und nahem Umfeld "hochgefahren werden", wie Mayer-Stickler meint. Das könne zehn Minuten bis zu einer halben Stunde oder sogar tagelang dauern.

Freilich ist die psychische Betreuung vorrangig. Falls die Betroffenen nicht selbst zum Unglücksort kommen können, begleitet für gewöhnlich ein zweiköpfiges Team die Exekutivbeamten zu den Hinterbliebenen nach Hause, um die Todesnachricht zu überbringen. Krisenintervention bedeutet allerdings auch, den Angehörigen der Opfer bei den Formalitäten zu helfen - so unwesentlich das für viele in diesem Moment auch scheinen mag. Aber Amtsarzt und Bestattung müssen verständigt und ein Totenschein muss ausgestellt werden.

"Man muss von der Leiche Abschied nehmen können"

"Im Fall des Busunglücks in der Schweiz arbeiten die Kriseninterventionsteams mehrerer Länder zusammen", erklärt Mayer-Stickler. Die belgischen Kollegen haben die Angehörigen der Opfer noch am Mittwoch an den Unfallort gebracht.

"Wenn man persönlich von der Leiche Abschied nehmen kann, erkennt man die Tragödie eher an. Man muss die Leiche sehen und sagen können: Das ist mein verstorbener Angehöriger. Erst dann kann man den nächsten Schritt tun und mit der Aufarbeitung beginnen", meint dazu der Notfallpsychologe Cornel Binder-Krieglstein vom Berufsverband österreichischer Psychologen.

Eine enorme Herausforderung: War doch noch am Dienstag im Internet-Reisetagebuch der belgischen Schüler zu lesen: "Programm 13. März: Bettzeug zurückgeben, Frühstück, Souvenirs kaufen, Mittagessen, Skifahren (das letzte Mal!), Kaffee und Duschen (wenn noch Zeit ist?)."

"Kinder stehen für Unschuld und Hilflosigkeit", sagt Binder-Krieglstein. "Sie haben die Zukunft noch vor sich. Wenn Kinder sterben, wird die Trauer potenziert." Angehörige hätten dann oft das Gefühl, in ihrer Beschützerrolle versagt zu haben, und fühlten sich schuldig.

"Vergessen wird man den Verlust eines Kindes nie - verarbeiten schon", sagt der Notfallpsychologe. Generell gehe man von einem Jahr der Trauer aus, nach dem man - unter Umständen mit psychologischer Betreuung - wieder in seine alte Lebensroutine zurückfinde.

Im Gegensatz zur ersten Phase der emotionalen Aufarbeitung sucht man in den folgenden Phasen sehr wohl nach Ursachen und Schuldigen. Werden die Verantwortlichen verurteilt, ist das zumeist eine Genugtuung für die Opfer-Angehörigen, weil sie sich bei ihrer Schuldzuweisung von der Gesellschaft bestätigt fühlen. "Aber auch eine Verurteilung kann den verlorenen Menschen nicht wieder zum Leben erwecken", bringt es Karl Wagner auf den Punkt. Der Anwalt aus Schärding in Oberösterreich hat den Lenker jenes Lastwagens verteidigt, der im August 1999 im Tauerntunnel auf einen mit Lackspraydosen beladenen Lkw aufgefahren war. Durch die darauf folgende Explosion und das Feuer starben zwölf Menschen, mehr als drei Dutzend weitere wurden verletzt. "Dieses Verfahren war sehr schwierig für die Verteidigung, weil viele Emotionen mitspielten", berichtet Wagner der "Wiener Zeitung".

Der Lenker wurde schließlich wegen fahrlässiger Gemeingefährdung zu zwei Jahren Haft verurteilt, von denen 21 Monate auf Bewährung ausgesetzt wurden. Die Angehörigen erhielten aus der Haftpflichtversicherung des Fahrzeughalters Schmerzengeld für ihr psychisches Leid - laut Wagner ist dies der häufigste Ausgang bei Unfällen dieser Art. Handelte der Fahrer grob fahrlässig, könne die Versicherung allerdings Regressansprüche stellen.

Genugtuung, wenn der Schuldige gefunden ist

"In Wahrheit sind aber beide Opfer: Lenker und Hinterbliebene", sagt Wagner. Der für das Tauerntunnel-Unglück verantwortliche Lenker war monatelang in psychologischer Behandlung, um das, was er verursacht hatte, zu verarbeiten. Er stand nach dem Unfall genauso unter Schock wie die Angehörigen der Opfer. "Im Prinzip war es ein Auffahrunfall, wie er tagtäglich passiert - nur, dass der Lastwagen zufällig hochexplosive Ware geladen hatte. Der Fehler war ein kleiner, das Ergebnis eine Tragödie."

Diese Genugtuung, dass ein Schuldiger gefunden und verurteilt wurde, blieb den Angehörigen der Opfer des Unglücks von Kaprun verwehrt. Im November 2000 kam es in der Tunnelstandseilbahn, die zum Gletscher auf dem Kitzsteinhorn in Salzburg führt, zu einer Brandkatastrophe mit 155 Toten. "Den Hinterbliebenen wurde zwar eine relativ hohe Entschädigung gezahlt - eigenartige Gutachten haben allerdings im Strafprozess zu lauter Freisprüchen geführt", berichtet Jürgen Hinterwirth, jener Anwalt, der im Prozess die Angehörigen der Opfer vertrat. Die Entschädigungen wurden aus einem Unterstützungsfonds bezahlt.

Erich und Erna Wildenauer, deren Tochter in der Gletscherbahn saß und bei dem Brand erstickte, haben daher mit dem Unglück noch nicht abgeschlossen. "Wir sind zum Prozess gefahren und haben gehofft, dass die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden", sagten sie in einem Interview der "Wiener Zeitung". Der Freispruch für die 16 Angeklagten sei "niederschmetternd" gewesen. Die Eltern fahren jedes Jahr zum Gedenken nach Kaprun.

Auch die Hinterbliebenen der Schüler des aktuellen Busunglücks werden vermutlich intensiv nach den Schuldigen suchen - am Mittwoch waren die Ursachen noch unklar. "Zurzeit sind sie aber noch starr vor Schreck", sagt Binder-Krieglstein, "oder überwältigt von der Trauer."

Kriseninterventionszentrum des Roten Kreuzes: 01/58900 134
Krisen-Hotline des Berufsverbandes österreichischer Psychologen: 01/504 8000