Wien. Die Sehnsucht nach dem "wirklichen Leben" war ja schon immer da. Einfach sollte es sein, ehrlich, nicht korrumpiert von kommerziellen Interessen - authentisch eben, wie es die Großkopferten in der Stadt ausdrückten. Zu diesem Zweck reiste man einst nach Griechenland, auf eine irgendeine Insel, und steckte die Füße in den weißen Sand. Oder nach Irland. Oder in ein Kaff in Italien, am besten weit abgeschieden im unwegigen Apennin, der letzte Geheimtipp sozusagen.

Österreichische Dirndln sind wieder in - auch als Werbebotschafter in New York. - © Austrian Tourist Office/Morgan PaarNomadic Frames
Österreichische Dirndln sind wieder in - auch als Werbebotschafter in New York. - © Austrian Tourist Office/Morgan PaarNomadic Frames

Nur in Österreich stand die heile Welt des Landlebens für die Städter unter dem Generalverdacht eines Rückzugsgebiets für faschistische Mentalitätsreste. Kein Wunder, dass sich in Österreich nach 1945 eine ganz eigene literarische Gattung entwickelte, die diesen Bruch wortmächtig zu ihrem ureigensten Thema machte: die Anti-Heimat-Literatur.

Bachmann, Handke, Lebert, Qualtinger, Turrini, Menasse, Mitterer, Scharang, Innerhofer, Jelinek und viele weitere stehen in dieser Tradition. "Und fragst Du nach der Heimat, / so sagen alle, die blieben / Das Gras ist gewachsen", schreibt Ilse Aichinger 1955 in ihrem Gedicht "Breitbrunn". In einem Essay aus dem Jahr 2008 meint die Germanistin Ingeborg Rabenstein-Michel: "Nicht zufällig werden bis weit in die siebziger Jahre in Ausstellungen, die Titel wie ‚Unser Österreich‘ tragen, hauptsächlich Landschaft und Natur, höchst selten jedoch Menschen dargestellt, um die (Mit-)
Schuldfrage nach Möglichkeit zu umgehen. Heimat wurde so zur überwältigenden, unschuldigen und identitätsstiftenden Naturkulisse stilisiert, die vorteilhaft die historischen Fehlentscheidungen der Menschen verbarg, das heißt, dazu beitrug, die nach 1945 einsetzende allgemeine Amnesie effizient zu unterstützen."

Diese Vorbehalte gegen die Provinz mögen in Österreich noch nicht gänzlich aus den Köpfen und Reden mancher Intellektuellen verschwunden sein, dem Siegeszug des Ländlichen und - fast - all dessen, was mit diesem Lebensraum assoziiert wird, tut dies jedoch keinen Abbruch. Das dörfliche Idyll, die Faszination für die Natur, ist nicht nur gleichberechtigt neben das Urbane getreten, es hat diesem in vielerlei Hinsicht sogar die Definitionsmacht über all das entrissen, was unsere Zeit gemeinhin als gelungenes Leben bezeichnet.

Noch mehr als die Literatur sind für diesen Trend die Ökonomie und die mit ihr verbundene Publizistik verlässlicher Gradmesser. Magazine, die das Hohe Lied auf das edle, echte Landleben anstimmen, trotzen der Krisenstimmung am Medienmarkt; "Servus in Stadt und Land", das einschlägige Produkt aus dem Hause Red Bull, hat seine Auflage innerhalb kürzester Zeit verdreifacht; die Trachtenbranche, und seien die Motive auch nur aufgemalt, verzeichnet enorme Zuwachsraten; die Gastronomie war überhaupt unter den Ersten, die auf den Zug zur neu entflammten Heimatliebe aufsprang, indem sie der traditionellen Küche der Regionen neues, zeitgemäßes Leben einhauchte; Bergwandern wurde gar zum neuen Trendsport.

Die Sehnsucht nach dörflicher Idylle ist allerdings komplex und durchaus widersprüchlich. Tatsächlich kann von Stadtflucht keine Rede sein, nicht in Österreich und schon gar nicht im globalen Maßstab. Seit 2007 leben - in der Weltgeschichte eine historische Zäsur - weltweit erstmals mehr Menschen in städtischen Ballungszentren als in ländlich geprägten Räumen. In entwickelten Staaten liegt dieser Schritt allerdings schon etliche Jahrzehnte zurück. Und die Anziehungskraft der urbanen Zentren hat auch hier bis heute nichts an Dynamik verloren.

Die Gründe liegen auf der Hand: bessere Aufstiegs-, Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten, ein größeres Angebot an medizinischen Leistungen, Kultur und Infrastruktur - all dies sprach und spricht für ein Leben in der Stadt. Nur, dass mittlerweile die fast vollständige Verdrängung des Natürlichen als Verlust empfunden wird, der gerne, wo’s leicht geht, behoben wird. Deshalb tauchen plötzlich Bienenstöcke auf dem Dach der Staatsoper auf, gedeihen Kräutergärten und Tomatenstauden auf Balkonen und Terrassen, wird "Urban Gardening" als neuer Trend ausgerufen.

Einst Fluchpunkt,heute Fluchtziel: Unberührte Natur in den Alpen. - © OeAV/www.norbert-freudenthaler.com
Einst Fluchpunkt,heute Fluchtziel: Unberührte Natur in den Alpen. - © OeAV/www.norbert-freudenthaler.com

Wer es sich leisten kann, den zieht es gleich aus der Stadt hinaus; und sei es auch übers Wochenende. Verzicht steht dabei allerdings nicht an erster Stelle, es erfolgt höchstens eine Umreihung der persönlichen Prioritäten; leistungsfähige Internet- und Handyverbindungen gehören auch auf dem Land längst zum Standard. Und natürlich die Erreichbarkeit, am besten selbstredend per Automobil, sowie die Ausstattung mit den notwendigen Dienstleistern des täglichen Bedarfs.

Von daher wäre es verfehlt, von einer Krise urbaner Lebensstile zu sprechen, vielmehr werden diese - innerhalb wie außerhalb der Städte - mit ruralen Elementen angereichert. Hier verschwimmen die einst scharfen Unterschiede zwischen Peripherie und Zentrum. Kann ein Tal, ein Viertel da nicht mithalten, bleiben dessen Gemeinden vom Tod durch Abwanderung bedroht.

Überall sonst jedoch werden uralte Bauernhöfe liebevoll und, falls nicht in Eigenregie, so unter erheblichem Kapitaleinsatz, restauriert, alte Mühlen, Schmieden und sonstige Schuppen als Spitzenlokale revitalisiert, ehemalige Schmugglerpfade und vergessene Pilgerwege für touristische Zwecke neu ausgeschildert und alles Erdenkliche - von Wein über Käse und Speck bis zu Kasnocken und Kernöl - regionalspezifisch "gebranded" und solcherart ökonomisch verwertbar gemacht; und wenn dann am Ende auf den Produkten nicht das Siegel "Genussregion" des "Lebensministeriums", einst eher als Umwelt- und Landwirtschaftsministerium geläufig, prangt, muss es schon mit dem Teufel zugegangen sein.

Einen Fehler sollte man angesichts dieses "Runs aufs Land" aber nicht begehen: Alte Traditionen und Lebensweisen lassen sich auf diese Weise nicht erhalten, sie bleiben dem Untergang geweiht. Wenn ein Architektenpärchen einen alpinen Bauernhof, ein liquider Finanzdienstleister einen Vierkanthof im Mühlviertel oder eine Rechtsanwaltsfamilie das Presshaus eines Weinbauern im Weinviertel renoviert, bleibt in aller Regel nur die Hülle bestehen: Die funktionale Architektur wird jedoch ihrer ursprünglichen Rolle beraubt; ein Wohnhaus für Exilstädter in einem Bauernhof ist eben kein Bauernhof mehr.

Die Sehnsucht nach Authentizität, die viele aus den Städten in die Natur und Dörfer treibt, ist also in den allermeisten Fällen Illusion. Und auch Handwerke, deren Produkte man höchstens als Zierstücke verwenden kann, oder Traditionen, deren tieferer Sinn sich nicht mehr von selbst erschließt, sind unrettbar verloren. Das Rad der Zeit lässt sich weder anhalten noch zurückdrehen. Schon gar nicht von Stadtmenschen, die ihre Lust auf Natur und Landleben entdecken. Hedonismus ist eine bürgerliche Kulturtechnik, die in den Städten erfunden wurde.