
Wien. Zuerst flammt er nur kurz auf. Der Schmerz warnt vor Verletzungen und Krankheit. Wird der Patient nicht ausreichend behandelt, kehrt er jedoch mitunter zurück - und bleibt, bis er selbst zur Krankheit wird. Dennoch ist der chronische Schmerz offiziell nicht als Krankheit anerkannt. Weder in der Behandlung noch in der Medizinerausbildung nimmt er einen konkreten Platz ein. Das beschere Österreich einen enormen wirtschaftlichen Schaden, sagte Hans Georg Kress, Leiter der Abteilung für spezielle Anästhesie und Schmerztherapie am AKH Wien, am Donnerstag vor Journalisten.
Gemeinsam mit dem Selbsthilfegruppen-Dachverband "Allianz chronischer Schmerz" forderte er, dass der Schmerz vonseiten der Politik ernst genommen werde. Immerhin leiden laut Statistik Austria 1,7 Millionen Menschen darunter. Addiert man den daraus resultierenden Produktivitätsverlust von 1,12 Milliarden Euro (aufgrund der 406.000 Krankenstandstage) zu den 600 Millionen Euro, die die 21.000 Frühpensionierungen kosten, kommt man laut Kress auf 1,7 Milliarden Euro. Rechnet man noch die direkten Invaliditätspensionsleistungen von 430 Millionen Euro sowie die Aufwendungen für die Behandlung dazu, komme man auf jährliche Gesamtkosten von 3,8 Milliarden Euro.
Hochgerechnet auf Europa betragen die Zahlen freilich ein Vielfaches. "Jeder fünfte Europäer leidet unter chronischen Schmerzen. Das macht 500 Millionen Krankenstandstage und 35 Milliarden Euro Schaden zulasten der Wirtschaft", so Kress. In einigen europäischen Ländern scheint man sich dessen zunehmend bewusst zu werden. Irland zum Beispiel ist das erste europäische Land, in dem man ein nationales Diplom in der Schmerztherapie erlangen kann. Die Schmerzmedizin stellt ein eigenes Fachgebiet dar. In Deutschland ist diese ein obligater Teil des zentral einheitlichen Medizinstudiums und der staatlichen Abschlussprüfung. In Italien gibt es wiederum ein fakultatives nationales Master-Diplom in Schmerzmedizin.
Und in Österreich? Hier ist die Schmerzmedizin weder als Fach noch als Sonderfach anerkannt. Drei Universitäten bieten lediglich Kurse in diese Richtung an, zudem kann man das Ärztekammer-Diplom "Spezielle Schmerzmedizin" erwerben. Es gibt allerdings weder bindende Standards noch eine Kontrolle der Ausbildung.
Gesundheitsministerium sieht keinen Handlungsbedarf
Das wird sich vermutlich auch nicht so rasch ändern. Denn: "Wir sehen keinen Handlungsbedarf", heißt es vonseiten des Gesundheitsministeriums auf Nachfrage der "Wiener Zeitung". Das Ministerium beruft sich auf das internationale statistische Klassifikationssystem der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD) der Weltgesundheitsorganisation WHO. Demnach ist Schmerz nicht als Krankheit, sondern als Symptom definiert. Und werde "im Zuge der Behandlung der Grunderkrankung therapiert und in diesem Zusammenhang bei der Medizinerausbildung gelehrt", so das Gesundheitsministerium.
Dennoch besteht ein Funken Hoffnung für die Verfechter der Anerkennung des chronischen Schmerzes. Hat doch die WHO immerhin eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die prüfen soll, ob der chronische Schmerz in die Liste der ICD aufgenommen werden soll.
Welchen Stellenwert dieser derzeit hat, zeigt die Aufnahme neuer Medikamente vonseiten des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger. Im Vorjahr hat er erstmals seit acht Jahren ein neues Schmerzpflaster mit dem Wirkstoff Capsaicin, der zum Beispiel Paprika- und Chilischoten die Schärfe verleiht, aufgenommen.
"Patienten werden oft in die Psycho-Ecke entsorgt"
Noch immer dauere es durchschnittlich 1,7 Jahre, bis ein chronischer Schmerzpatient als solcher erkannt werde, sagt Kress. In dieser Zeit suche er mehr als fünf Ärzte auf. Bis zur adäquaten Behandlung vergingen weitere zwei Jahre. Das Hauptproblem sei: "Oft werden Schmerzpatienten in die Psycho-Ecke entsorgt." Depressionen und soziale Isolation seien die Folge. Dadurch potenziere sich das Problem des chronischen Schmerzes auf ein Vielfaches. "Freilich gibt es nicht ein Mittel gegen alles. Aber es braucht Ärzte und Experten, die die medizinischen Leistungen professionell koordinieren."