"Wiener Zeitung": Unbezahlte Praktika trotz Uni-Abschluss und junge Menschen in Jobs, für die sie überqualifiziert sind. Ist in Zeiten der prekären Arbeitsverhältnisse ein Hochschulstudium überhaupt noch erstrebenswert?
Konrad Paul Liessmann: Ich plädiere für mehr Ehrlichkeit, was tertiäre Ausbildungen leisten können. Meine Utopie wäre, dass es keine Berufe mehr gibt, die dehumanisiert und geistlos sind. Aber das bedeutet nicht, dass alle Akademiker sein müssen. Das wäre auch das alte Ideal Humboldts, der nie den einen Bildungsweg für wenige gesehen hat, sondern die humanistische Bildung immer als zusätzliche Option sehen wollte, egal in welchem Beruf ein Mensch tätig ist. In einer Welt, in der sich die Berufswirklichkeit schnell ändert, ist es umso wichtiger, über Wissen und Reflexionsfähigkeit zu verfügen. Der mündige Staatsbürger war immer schon eine Forderung der Sozialdemokratie. Tertiäre Bildung ist heute ein wildes Feld voller Orientierungslosigkeit. Viele Bachelor-Studien sind nicht akademisch im eigentlichen Sinn, also wissenschafts- und forschungsorientiert. Das sind oft berufliche Ausbildungen ohne Berufschancen, und das ist das Schlimmste, was man einem jungen Menschen antun kann.
Sie sind ein großer Verfechter der Lehrlingsausbildung. Wieso?
Österreich gehört mit Deutschland zu den wenigen Ländern, die noch ein duales Ausbildungssystem haben. Die Diskussion dreht sich aber immer um die Schule, das Gymnasium und die Universität. Über Fachhochschulen sprechen wir wenig, auch Berufsbildende Höhere Schulen (BHS) oder Pflichtschulen werden vernachlässigt als wären sie ein Übel. Das ist eine ungenaue Wahrnehmung. Die Aufgabe einer sozialdemokratischen Bildungspolitik wäre es, die Bildung ihrer ehemaligen Kernschichten – also der Arbeiter und Angestellten – im Blick zu behalten, und die duale Ausbildung versucht dies. Sie sollte beibehalten, vielleicht sogar forciert werden, da sie viele Vorteile etwa bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hat, wie uns die Krise gezeigt hat. Aber man sollte darauf achten, dass sie durchlässig bleibt und auch Elemente einer Allgemeinbildung enthält.