Wien. Hat man viel Stress, sehnt man diese Zeiten herbei: dass es einmal weniger zu tun gibt; dass man seine Mails in Ruhe sortieren kann; dass man seine Überstunden abbauen kann. Hat man aber tatsächlich Zeit für all diese Dinge, kann das ebenfalls zum Stress werden. Zum Stress aus Langeweile, der auch krank machen kann.

Boreout ist der Fachausdruck dafür, der allerdings im Gegensatz zu seinem Pendant, dem Burnout durch völlige Erschöpfung, offiziell nicht anerkannt ist. Letzterer kommt aus der Medizin und ist in der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation WHO gelistet. Boreout hingegen wurde von den Schweizer Unternehmensberatern Philippe Rothlin und Peter Werder kreiert und 2007 in deren Buch "Diagnose Boreout" präsentiert. Der Begriff umschreibt den Zustand, "ausgelangweilt" (vom Englischen boredom, Langeweile) zu sein - und könne sich in ähnlichen Symptomen wie beim Burnout wie Schlafstörungen, Magen- und Rückenschmerzen, Schwindel oder einer depressiven Stimmung äußern, sagt Wolfgang Merkle, Facharzt für psychosomatische Medizin und Chefarzt des Hospitals zum Heiligen Geist aus Frankfurt am Main. In weiterer Folge sei wie bei allen Erkrankungen, die mit Spannungen einhergehen, auch ein Suchtverhalten etwa in Form von übermäßigem Alkoholkonsum möglich.

Die Monotonie der
Unter- und der Überforderung


In beiden Fällen gehe es nämlich um das Gefühl der Leere, ergänzt der Arbeitspsychologe Andreas Kremla von "Health Consult" im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Um das Gefühl, sinnentleert seiner Tätigkeit nachzugehen. Sowohl die Monotonie der Unter- als auch der Überforderung, wenn man eine Aufgabe nach der anderen bewältigen muss und der Aufgabenstapel dennoch wächst, könne dieses hervorrufen. In jedem Fall geht es Kremla zufolge um den "schalen und leeren Beigeschmack". Wird die Arbeit zu viel, schmecke diese mit der Zeit so - ist sie zu wenig, habe sie von vornherein diesen Geschmack.

Der wesentliche Unterschied zwischen Burnout und Boreout sei allerdings, so Kremla, dass bei Letzterem die Anerkennung fehle. Diese resultiere für gewöhnlich aus der - ebenfalls nicht oder zu wenig vorhandenen - Herausforderung. "Durch diesen Mangel ist man ständig im Leerlauf", sagt Kremla. Arbeit zu mimen und damit nur scheinbar "voll aufzudrehen", mache es auch nicht besser.

Diese Art der Monotonie könne sogar gefährlich werden, sagt Merkle. Und zwar dann, "wenn man aufgrund der unglaublichen Lähmung durch Langeweile Situationen, in denen tatsächlich Spitzen der Aufmerksamkeit gefordert sind, nicht mehr bewältigen kann". Anders gesagt: Die Reaktionsfähigkeit leide unter dieser Lähmung. Lokführer etwa seien dann mitunter Herausforderungen, bei denen sie sich nicht mehr auf die Technik verlassen können und schnell reagieren müssen, nicht mehr gewachsen. Unfälle könnten passieren.

"Burnout ist fast schon ein Statussymbol -Boreout nicht"


Dazu komme, dass Boreout aus gesellschaftlicher Sicht das genaue Gegenteil von Burnout sei, so Kremla. Etwas, wofür man sich oft schäme, denn: "Langweilig beeindruckt niemanden." Burnout wiederum, das mit einem Leben auf der Überholspur gleichgesetzt werde, sei fast schon ein Statussymbol. Eine Art Verdienstmedaille für die allseits erwünschte Leistung bis ans Limit.

Anders als beim Burnout existieren über Boreout mangels eingangs erwähnter offizieller Anerkennung keine verlässlichen Statistiken. Von Burnout ist laut Kremla ein geringer, einstelliger Prozentsatz der Arbeitnehmer betroffen. Bezüglich Boreout gibt es Merkle zufolge nur eine Umfrage aus der Schweiz, wonach rund zehn Prozent der Arbeitnehmer darunter leiden. Und eine von karriere.at durchgeführte Umfrage unter rund 500 Arbeitnehmern hat ergeben, dass sich 25 Prozent durch zu viele Aufgaben und zu wenig Zeit überfordert, 41 Prozent jedoch unterfordert fühlen.

Gefährdet sind laut Kremla all jene, deren Tag aus relativ viel Routinearbeit besteht, sodass sie den Blick aufs größere Ganze verlieren. Banker könnte es dabei genauso treffen wie Beamte bei Gericht, die Fälle immer nach demselben Schema bearbeiten müssen.

Auch Überqualifikation ist mitunter Thema: Das Institut für soziale Forschung der Universität Michigan hat ein "Person-Environment-Fit-Modell" entworfen, wonach immer dann, wenn Anforderungen und Qualifikation des Ausführenden nicht übereinstimmen, Stress entsteht. "Oft ist das eine Migrationsfrage", sagt dazu Merkle. "Da kommt zum Beispiel jemand, der in seinem Heimatland Physik studiert hat und kann hier nur im Lager arbeiten." Grundsätzlich ist Kremla zufolge aber nicht nur ausschlaggebend, was man arbeitet, sondern auch die Tatsache, wie man es tut. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit sollte ein Gleichgewicht herrschen. Von zwei Arbeitnehmern im selben Job könne einer diesen als sinnstiftend, der andere als sinnentleerend empfinden.

Ist zum Beispiel die einzige Motivation hinter seiner Tätigkeit nur noch der Gedanke, Geld dafür zu bekommen, ist das laut Kremla auf die Dauer zu wenig. Vor allem, wenn die Wohnung ausbezahlt ist, die Kinder aus dem Haus sind und man selbst in eine Lebensphase eintritt, in der der materielle Aufbau abgeschlossen ist, steige das Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit.