Viele erinnern sich noch an den 11. Februar 2013. Denn an diesem Tag geschah etwas "Historisches", das sich ins kollektive Gedächtnis einprägte: Der Papst, Oberhaupt der katholischen Kirche und damit von weit mehr als einer Milliarde Gläubigen, dankte ab. So etwas gab es seit Jahrhunderten nicht mehr. 1294 war Coelestin V. nach wenigen Monaten im Amt aus Gewissensgründen zurückgetreten. 

In einer lateinischen Erklärung begründete Benedikt XVI. vor den versammelten Kardinälen den bis dahin unmöglich scheinenden Schritt: "Nachdem ich wiederholt mein Gewissen vor Gott geprüft habe, bin ich zur Gewissheit gelangt, dass meine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet sind, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben."

Joseph Aloisius Ratzinger, so hieß Benedikt XVI. mit bürgerlichem Namen, war sich also sicher. Er hatte etwas als – bittere – Wahrheit erkannt. Und er handelte danach. Weil er die Wahrheit liebte. Diese Eigenschaft zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Nicht zufällig hieß die letzte Enzyklika seiner Amtszeit im Jahr 2009 "Caritas in veritate" ("Die Liebe in der Wahrheit").

Für Benedikt XVI. war die letzte Wahrheit der jüdisch-christliche Gott. Ihm weihte er sein Leben.
Begonnen hat dieses Leben auf Erden am Karsamstag des Jahres 1927. Dem Gendarmeriemeister Joseph Ratzinger und seiner Frau Maria, einer Köchin, wurde ein Sohn geboren. Das dritte Kind der Ratzingers wurde noch am gleichen Tag in der Pfarrkirche St. Oswald im bayerischen Marktl getauft. Schon früh wurde der kleine Joseph Ministrant und spielte mit seinem älteren Bruder Georg die Heilige Messe nach – für die damalige Frömmigkeit nichts Ungewöhnliches.

1939 trat Joseph Ratzinger in das erzbischöfliche Studienseminar St. Michael in Traunstein ein. Schon damals fiel er durch seine sehr guten Leistungen in geisteswissenschaftlichen Fächern auf. Im gleichen Jahr musste er auch zwangsweise der Hitlerjugend beitreten und später als Luftwaffenhelfer in München dienen. Während der Nazizeit leistete Joseph auch zwei Monate Reichsarbeitsdienst im Burgenland.

Steile kirchliche Karriere

In Jahr nach Kriegsende begann Ratzinger katholische Theologie und Philosophie zu studieren. 1951 empfing er zusammen mit seinem Bruder die Priesterweihe. Seine kirchliche Karriere ging – weltlich gesprochen – stets nur in eine Richtung: nach oben. 1953 promovierte er mit "Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche". 1958 wurde der damals erst 31-Jährige schon Professor für Dogmatik und Fundamentaltheologie in Freising. 1966 erfolgte auf Empfehlung von Hans Küng seine Berufung auf den Lehrstuhl für Katholische Dogmatik in Tübingen.

Die Studentenproteste des Jahres 1968 schockierten ihn. Deshalb wechselte der bis dahin als progressiv geltende Theologe – was er etwa beim Zweiten Vatikanischen Konzil unter Beweis stellte – nach Regensburg. Damals vollzog sich bei Ratzinger eine konservative Wende – was für seinen innerkirchlichen Aufstieg allerdings kein Schaden war.

"Demut vor der so hohen Berufung": Benedikt XVI. am Tag seiner Wahl zum Papst auf der Benediktionsloggia des Petersdomes in Rom. 
- © Max Rossi

"Demut vor der so hohen Berufung": Benedikt XVI. am Tag seiner Wahl zum Papst auf der Benediktionsloggia des Petersdomes in Rom.

- © Max Rossi

1977 wurde er von Papst Paul VI. zum Erzbischof von München und Freising und zum Kardinal ernannt. Als ein Jahr später der Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła zum Papst gewählt wurde, fragte er sofort bei Ratzinger an, ob dieser nicht nach Rom kommen möge. Der Bayer zierte sich – letztlich aber vergeblich: Drei Jahre später verlangte Papst Johannes Paul II. mit Nachdruck: "Jetzt muss ich Sie aber unbedingt haben." Ratzinger wurde Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre – vormals das überaus mächtige Heilige Offizium.

Damals begann eine Reihe von Missverständnissen zwischen dem hochgebildeten Theologen und der oft journalistisch recht mäßig informierten Öffentlichkeit. Als "Panzerkardinal" bezeichnete man Ratzinger ob seiner Haltung zu Fragen der Sexualmoral, der marxistischen Befreiungstheologie, der Abtreibung und Sterbehilfe. Dennoch galt er schon zur Zeit, als sich der Gesundheitszustand von Johannes Paul II. verschlechterte, als dessen möglicher Nachfolger. Und als er nach dem Tod des Papstes souverän die Beisetzungsfeierlichkeiten leitete und die Kirche durch die Sedisvakanz führte, ging er als Favorit ins Konklave.

"Wir sind Papst!"

Mit der Schlagzeile "Wir sind Papst!" feierte die "Bild"-Zeitung die Wahl eines Deutschen zum Papst am 19. April 2005. Er war der erste deutsche auf dem Stuhl Petri seit 482 Jahren. Nach den vielen und zuletzt mühsamen Amtsjahren von Johannes Paul II. schienen sich die Eminenzen im Vatikan mit einem "Übergangspapst" Zeit zum Durchatmen verschaffen zu wollen. Allerdings kam es anders. Der "Übergang" dauerte fast acht Jahre – und Benedikt XVI. erwies sich als Hüter und Bewahrer des Erbes seines großen Vorgängers.

Bahnbrechende Reformen, wie sie von Kirchenkritikern immer wieder eingefordert wurden und werden, erwartete kaum jemand von "Benedetto". Er war von Anfang an vor allem eines: einer der größten Theologen, die je auf dem Stuhl Petri saßen. Nicht nur sein dreibändiges Hauptwerk "Jesus von Nazareth" entwickelte sich zu einem internationalen Bestseller.

Auf den Spuren von Johannes Paul II. verfolgte Benedikt XVI. das Ziel, die Herde der Gläubigen gegen die Versuchungen einer "gottfernen" und konsumversessenen Welt zu schützen. Und er rief zur neuerlichen Verbreitung des christlichen Glaubens auf. Manche seiner Reden machten – nicht nur positive – Schlagzeilen. So etwa beim Besuch in seiner bayerischen Heimat im Jahr 2006, als der ehemalige Professor mit einem Zitat, das eine Verknüpfung von Islam und Gewalt nahelegte, gewalttätige Proteste in der islamischen Welt auslöste. Letztlich vertiefte allerdings die sogenannte Regensburger Rede den "Dialog der Religionen".

In Deutschland sorgte auch sein Auftritt vor dem Bundestag in Berlin im Jahr 2011 für Aufsehen, ebenso seine Rede in Freiburg, in der er zur "Entweltlichung" der Kirche aufrief – was von manchen als verdeckte Kritik am mitteleuropäischen Kirchensteuersystem interpretiert wurde. Benedikt XVI. veröffentlichte drei Enzykliken: zur Liebe ("Deus caritas est"), zur Hoffnung ("Spe salvi") und die schon eingangs erwähnte zu Sozialfragen ("Caritas in veritate"). Alle drei verfestigten seinen Ruf als "Mozart der Theologie". Prägend waren zudem seine Reisen: Er betrat als erster Papst eine Synagoge in Deutschland und sprach im ehemaligen KZ Auschwitz sowie in der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Und er traf immer wieder Missbrauchsopfer. Als dieser Skandal sich ausbreitete und immer mehr Kirchenleute am Pranger standen, versuchte der Papst, mit einer Null-Toleranz-Politik und einer Bitte um Vergebung die Schmach zu mildern.

Die Welle der aufgedeckten Missbrauchsfälle in katholischen Einrichtungen war freilich nur die schwerste, nicht aber die einzige Krise im Pontifikat Benedikts XVI. So wurde auch sein Zugehen auf die erzkonservative Piusbruderschaft von progressiver Seite heftig kritisiert. Und die "Vatileaks"-Affäre um gestohlene Dokumente warf ebenfalls Schatten auf seine Kirche.

Zwar attestierten Vatikanologen, dass "Papa Ratzi" milder agierte als Kardinal Ratzinger, doch seiner persönlichen Linie blieb er bis zuletzt treu. Der Amtsverzicht bewies seine Liebe zur Wahrheit. Er legte diesen "unmöglichen Job" zu einer Zeit nieder, da die schwindenden Kräfte ein verantwortliches Handeln immer schwerer machten.

"Ein Verzicht in Demut"

"Das ist kein Scheitern gewesen. Es war vielmehr ein Verzicht in Demut vor der so hohen Berufung. Und er hat das Verständnis von Amt und Kirche damit mehr verändert, als es manche Enzykliken seiner Vorgänger vermochten", resümierte die "Rheinische Post" über Benedikt XVI. Er hat das Papstamt menschlich verständlich gemacht und von der vielfach falsch verstandenen Unfehlbarkeit befreit. "Stilbildend" haben das Kirchenhistoriker genannt. Es ist dieser neue Stil, den sein Nachfolger Franziskus heute bis zur Perfektion pflegt. Der Erfinder des neuzeitlichen menschlichen Papstamtes ist am 31. Dezember verstorben.