Drei Tage nach dem schweren Erdbeben an der Grenze zwischen Syrien und der Türkei mit über 17.000 Toten schwinden die Hoffnungen auf die Rettung Überlebender. Zwar wurde am Donnerstag noch live im türkischen Fernsehen gezeigt, wie eine 60-Jährige lebend aus den Trümmern eines Wohnhauses geborgen wurde. Doch für viele Verschüttete auch in Syrien dürfte bald jede Hilfe zu spät kommen.

In beiden Ländern verbrachten viele Menschen bei Minustemperaturen die Nacht erneut im Freien oder in ihren Autos, weil ihre Häuser zerstört sind oder noch einzustürzen drohten. Der Unmut über das Katastrophenmanagement wächst, was in der Türkei auch Auswirkungen auf die für den 14. Mai geplanten Präsidenten- und Parlamentswahl haben könnte. Es wurden Zweifel laut, ob die Abstimmung überhaupt stattfinden kann.

Laut dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist die Zahl der Toten in seinem Land auf über 14.000 gestiegen. Mehr als 63.000 Menschen seien verletzt worden. In Syrien sind es nach Angaben der Regierung sowie von Rettungsdiensten in den von Rebellen kontrollierten Gebieten mehr als 3.000 Todesopfer. Das Beben hat nach Schätzungen der türkischen Regierung rund 13,5 Millionen Menschen getroffen - in einem Gebiet, das von Adana im Westen bis Diyarbakir im Osten reicht. Mitten im Winter wurden Hunderttausende Menschen obdachlos. In Syrien sind laut den Vereinten Nationen (UN) fast 10,9 Millionen Menschen unter anderem in Hama, Latakia, Idlib und Aleppo vom Beben betroffen - eine Region, die bereits besonders unter den nunmehr fast zwölf Jahren Bürgerkrieg gelitten hat.

Das Erdbeben der Stärke 7,8 hatte das türkisch-syrische Grenzgebiet Montagfrüh erschüttert. Rettungskräfte in beiden Ländern versuchten in der Nacht auf Donnerstag bei weiter eisigen Temperaturen verzweifelt, noch mögliche Überlebende zu finden. Es wird befürchtet, dass die Zahl der Opfer weiter steigt.

"Defizite" im Krisenmanagement

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Mittwoch "Defizite" im Krisenmanagement nach der Katastrophe eingeräumt. Bei einem Besuch von zwei besonders betroffenen Regionen sagte er allerdings auch, es sei nicht möglich, "auf so ein Erdbeben vorbereitet zu sein".

Noch immer werden zudem viele Menschen in beiden Ländern unter Trümmern vermisst. Anadolu zufolge sind allein in der Türkei mehr als 6.000 Gebäude eingestürzt. Mehr als 13 Millionen Menschen seien von den massiven Erdstößen betroffen.

8.000 Menschen gerettet

Dem Sender TRT World zufolge konnten in der Türkei bisher etwa 8.000 Menschen aus den Trümmern gerettet werden. Eine Reporterin des Fernsehkanals berichtete über den verzweifelten Kampf gegen die Zeit: "Die Retter weigern sich, aufzugeben." Aber die Momente der Freude über eine weitere Rettung würden immer seltener.

Trotzdem gibt es noch immer Erfolgsmeldungen: So wurde ein 24-jähriger Mann rund 64 Stunden nach dem Beben in der türkischen Provinz Kahramanmaras gerettet. In der Provinz Hatay konnte nach Angaben vom Mittwochabend eine 75-Jährige 60 Stunden nach der Naturkatastrophe aus den Trümmern befreit werden. In der Südprovinz Adiyaman wurde ein sieben Monate altes Baby lebend gefunden.

Die Rettungsteams arbeiten unermüdlich, um noch Überlebende zu finden. Die kritische Überlebensgrenze liegt normalerweise bei etwa 72 Stunden. Bilder aus den Katastrophengebieten zeigten auch in der Nacht auf Donnerstag Bagger, die Schutt abtrugen. Angehörige Verschütteter warteten bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf erlösende Nachrichten.

Hilfe kommt langsam voran

Vor allem im Norden Syriens ist das Ausmaß der Katastrophe nur schwer zu fassen. Hilfe kommt nur langsam voran - nicht zuletzt wegen der politischen Lage in dem Bürgerkriegsland. Die Nothilfe war UN-Angaben zufolge auch wegen einer zerstörten Straße zum Grenzübergang Bab al-Hawa zwischen der Türkei und Syrien erschwert gewesen, die inzwischen laut Weltgesundheitsorganisation repariert werden konnte. Die Vereinten Nationen hoffen, dass am Donnerstag wieder Lastwagen den Grenzübergang passieren können.

Auch das UN-Welternährungsprogramm (WFP) hat umgehend Hilfe auf den Weg gebracht. "Eine Region, die seit Jahren von immer neuen Krisen geplagt wird, steht vor einer weiteren Krise mit unvorstellbaren Verlusten und Zerstörungen", sagte Corinne Fleischer, WFP-Regionaldirektorin für den Nahen Osten, Nordafrika und Osteuropa. Die EU will Anfang März eine Geberkonferenz für Syrien und die Türkei abhalten.

Israel hilft

Israelische Rettungskräfte haben nach den schweren Erdbeben mit dem Aufbau eines Feldlazaretts in der Türkei begonnen. Eine Delegation werde dort die nächsten Tage medizinische Hilfe leisten, teilte die Armee am Donnerstag mit. Israel hatte in den vergangenen Tagen im Rahmen der Hilfsaktion "Olivenzweige" rund 380 Helfer in das Land geschickt, darunter auch Ärzte, Krankenschwestern und Sanitäter des israelischen Gesundheitsministeriums.

Rund zehn Menschen seien von den Rettungskräften schon gerettet worden, teilte das Militär mit. Darunter sei auch eine 26-Jährige, die in der Stadt Kahramanmaraş aus einem eingestürzten Haus lebend geborgen wurde.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte am Montag auch Hilfe für das Nachbarland Syrien angekündigt. Beide Länder befinden sich offiziell im Krieg. Laut einem israelischen Regierungsvertreter sollten Medikamente, Decken und Zelte geschickt werden. Unklar war jedoch, ob dies auch geschehen ist. Ein Sprecher der Armee sagte lediglich, dass das Militär nicht an der potenziellen Hilfe für Syrien beteiligt sei.

Die israelische Rettungsorganisation Zaka teilte unterdessen mit, in Antakya seien der Vorsitzende der örtlichen jüdischen Gemeinde und seine Frau tot aus den Trümmern geborgen worden. Das ältere Paar war seit dem Erdbeben vermisst worden.

Kahramanmaras liegt in Trümmern. Bei den Menschen herrscht Verzweiflung. Hilfskräfte stoßen auf Schwierigkeiten aufgrund der militärischen Lage in dem von der Naturkatastrophe betroffenen Gebiet. 
- © apa / afp / Ozan Kose

Kahramanmaras liegt in Trümmern. Bei den Menschen herrscht Verzweiflung. Hilfskräfte stoßen auf Schwierigkeiten aufgrund der militärischen Lage in dem von der Naturkatastrophe betroffenen Gebiet.

- © apa / afp / Ozan Kose

Einstellen der Angriffe gefordert

Mittlerweile hat Ewa Ernst-Dziedzic, außenpolitische Sprecherin der Grünen, eine sofortige Einstellung der türkischen Angriffe auf das vom Erdbeben verheerte Kurdengebiet gefordert. "Es ist ein Skandal, dass ein NATO-Staat hier diese humanitäre Katastrophe bewusst durch Bombardements noch weiter verschlimmert", teilte Ernst-Dziedzic, die sich derzeit in Erbil im Irak aufhält, am Donnerstag in einer Aussendung mit.

Sie bezeichnete es als "nicht nachvollziehbar", dass von anderen NATO-Mitgliedstaaten keine Kritik komme. "Die internationale Staatengemeinschaft ist aufgefordert, dem türkischen Präsidenten Erdoğan hier eine rote Linie zu ziehen", forderte Ernst-Dziedzic.

Mehrere Medien und Helferorganisationen hatten über Bombenangriffe der Türkei auf das kurdisch-kontrollierte Gebiet um Tel Rifat im Norden Syriens sowie einen Angriff des syrischen Regimes auf die von Rebellen gehaltene Stadt Marea kurz nach der Naturkatastrophe von Montag berichtet. Der britische Außenminister James Cleverly verurteilte die Regierung von Machthaber Bashar al-Assad für die "völlig inakzeptable Bombardierung".

Die jahrelange Blockade kurdisch-kontrollierter Gebiete würde die Notlage im Erdbebengebiet massiv verschlimmern, unterstrich Ernst-Dziedzic. Grenzübergänge blieben für humanitäre Hilfe geschlossen, weil in Nordsyrien nahezu alle von ihnen unter der Kontrolle der Türkei seien, erklärte die Nationalratsabgeordnete. Ihr zufolge könnten diese von der Türkei sofort geöffnet werden, ein Beschluss des UNO-Sicherheitsrates sei dafür nicht notwendig.

Die gesamte medizinische Versorgung im Erdbeben- und Bürgerkriegsgebiet liege wegen der andauernden Angriffe von türkischer, syrischer und russischer Seite bereits "in Trümmern". "Die internationale Staatengemeinschaft und die für die Hilfe zuständigen Organisationen sind aufgefordert, dafür Sorge tragen, dass die ins Katastrophengebiet transferierten Hilfsgüter alle vom Erdbeben betroffenen Menschen erreichen", forderte Ernst-Dziedzic. Österreichische Initiativen könnten einen wertvollen Beitrag leisten. (af/ar/gil/kra/apa)